«Wir brauchen den Gotthard dringend.»

Mit mehr als 90 000 Güterwagen und 31 000 Mitarbeitenden ist DB Schenker Rail die grösste Güterbahn Europas. Ein Gespräch zwischen dem Vorsitzenden Alexander Hedderich und Nicolas Perrin, CEO von SBB Cargo, über die Bedeutung des Gotthards, den Euro-Franken-Kurs und die Trümpfe der Schiene.

Herr Hedderich, 2016 wird ein historisches Jahr für den europäischen Güterverkehr. Ist der neue Gotthardtunnel ein Segen für Europa oder eine gigantische Fehlinvestition?
HEDDERICH: Ganz sicher keine Fehlinvestition. Wir erwarten ein erhebliches Wachstum im europäischen Schienengüterverkehr. Aus meiner Sicht ist gerade der Gotthard-Basistunnel ein wichtiger Baustein, um die Attraktivität der Eisenbahn deutlich zu steigern und der Schiene in den europäischen Verkehrsströmen mehr Gewicht zu geben. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil wir ökologisch verträglich Wohlstand und Wachstum schaffen wollen.

Herr Perrin, wie stolz sind Sie als Schweizer?
PERRIN: Ich habe das grosse Glück, während meiner beruflichen Laufbahn die Entstehung dieses Tunnels in verschiedenen Positionen begleiten zu dürfen. Das ist technisch und verkehrspolitisch unglaublich faszinierend. Die Krönung wird natürlich sein, nächstes Jahr dieses Bauwerk endlich in Betrieb zu nehmen.

Herr Hedderich, Sie werden als «Baumeister der europäischen Güterbahn» bezeichnet und wollen DB Schenker Rail bis 2020 zur kontinentalen Güterbahn entwickeln. Welche Bedeutung hat der Gotthard in diesem Netz und im globalen Güterverkehr?
HEDDERICH: Die Verkehrsströme zwischen Deutschland und Italien sowie zu den ARA-Häfen (Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen) sind die grössten im europäischen Schienengüterverkehr überhaupt. Das ist quasi das Rückgrat, und allein DB Schenker Rail fährt jährlich über Österreich und die Schweiz rund 25 000 Züge. Schon heute ist der Gotthard der wichtigste Korridor, und durch den neuen Tunnel wird er weiter an Bedeutung gewinnen. Es ist ein deutlicher Sprung nach vorne.

«Im Tagesgeschäft sind wir einer extremen Kurzatmigkeit ausgesetzt.»

Alexander Hedderich

Herr Perrin, was hat die Schweiz vom Milliardenprojekt? Profitiert nicht vor allem Ihre grosse Konkurrenz in Europa?
PERRIN: Geschichtlich betrachtet hat jedes Projekt am Gotthard der europäischen Nord-Süd-Achse zu Aufschwung verholfen. Ein solches Jahrhundertprojekt muss man in erster Linie volkswirtschaftlich betrachten. Ich bin überzeugt, dass über Generationen gesehen die gesamte Schweizer Wirtschaft nachhaltig davon profitieren wird.

Welche Chancen eröffnet der Gotthard- Basistunnel für den Güterverkehr auf der Schiene?
HEDDERICH: Die Verkürzung der Fahrtzeit um etwa eine Stunde sowie die Möglichkeit, mit bis zu 750 Meter langen Zügen zu fahren, eröffnet im europäischen Netzwerk völlig neue Möglichkeiten. Zusammen mit unseren Kollegen von SBB Cargo bereiten wir uns intensiv vor, um diese Effizienzsteigerung zu nutzen. Klar, die vollen Effekte werden erst 2020 mit Eröffnung des Ceneri-Basistunnels und der damit durchgängigen Flachbahn sowie mit dem 4-Meter-Korridor erzielbar sein – das wird nochmals ein erheblicher Effizienzsprung. Aber es sind genau solche Produktivitätssteigerungen, die wir im Schienengüterverkehr in der wirtschaftlich angespannten Situation in Europa dringend brauchen.

Mit dem Motto «From Patchwork to Network» ist DB Schenker Rail in 15 europäischen Ländern unterwegs. Wie entwickelt sich das Netzwerk?
HEDDERICH: Neben der Nord-Süd-Achse sehen wir grosses Potenzial in der Verbindung mit der Türkei und Südosteuropa. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Verbindung mit China, zwischen Zhengzhou und Hamburg verkehren wöchentlich mehrere Züge. Weiter haben wir die wichtigen Korridore von Spanien nach Mitteleuropa im Blick. Als tragende Säulen unseres Netzwerks sehen wir auch den Einzelwagenverkehr mit unseren Xrail-Partnern im nationalen und internationalen Bereich. Im Kombinierten Verkehr werden wir weiterhin in den Ausbau von Terminals investieren.

HEDDERICH (l.) & PERRIN (r.)
«In unserer Branche stehen grundlegende Veränderungen an.»: A. Hedderich (l.) und N. Perrin.

DB Schenker Rail erteilte SBB Cargo vor rund zwei Jahren den Auftrag, einen bedeutenden Teil der Transitverkehre durch die Schweiz zu fahren. Würden Sie heute gleich entscheiden?
HEDDERICH: Um auch in Zukunft auf der Schiene wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchen wir hinsichtlich Preis und Qualität eine Basis, mit der wir bei unseren Kunden punkten können. Da hat SBB Cargo ganz einfach das bessere Angebot vorgelegt. Das ist ein Massstab, dem sich alle unsere Dienstleister stellen müssen. Was uns aber Sorgen bereitet, ist die jüngste Entwicklung des Euro-Franken-Wechselkurses, der die Wettbewerbsfähigkeit stark belastet.

PERRIN: So gross die Herausforderung auch ist: Es ist auch eine Chance, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Schweizer Wirtschaft hat ja schon mehrfach bewiesen, dass sie solche Situationen erfolgreich meistern kann. Auch wir setzen uns intensiv damit auseinander. Doch eines muss man sich bewusst sein: Für die Weiterführung der schweizerischen Verlagerungspolitik müssen der Frankenkurs und die Dieselpreise in die Überlegungen einbezogen werden.

DB Schenker Rail ist einerseits Grosskunde von SBB Cargo, gleichzeitig aber auch der härteste Mitbewerber von SBB Cargo International. Wo sind Sie Freunde, wo Gegner?
PERRIN: Was uns vereint, ist das gemeinsame Interesse an einem starken Schienengüterverkehr. Sicher haben Liberalisierung und Wettbewerb Dynamik in unsere Branche gebracht. Es gibt Segmente wie den Wagenladungsverkehr, bei denen Kooperationen Sinn machen, um unseren Kunden weiterhin Qualitätsprodukte anbieten zu können.

Die ehemalige Swissair heisst heute Swiss – und gehört der Lufthansa. Haben Sie keine Angst, vom grossen Mitbewerber überrollt zu werden?
PERRIN: Wie kein anderes Land in Europa hat die Schweiz einen extrem starken Binnenverkehr mit einem dichten Netz von Anschlussgleisen. Das ist ein Unikat, bei dem unsere Expertise vor Ort immer eine Rolle spielt. Deshalb ist im Gegensatz zur damaligen Swissair der Fokus auf dem Binnenmarkt. Klar, im europäischen Kontext müssen wir die Zusammenarbeit suchen und uns im Netzwerk einbringen.

DB Schenker Rail haben die staatlichen Güterbahnen in den Niederlanden und in Dänemark übernommen und in England die grösste Güterbahn samt Zweig in Frankreich gekauft. Wann kaufen Sie SBB Cargo?
HEDDERICH: Es geht darum, sich in Europa bestmöglich aufzustellen, um unseren Kunden ein funktionierendes Netzwerk anbieten zu können – mit Partnern oder eigenen Gesellschaften. In unserer Branche stehen grundlegende Veränderungen an wie Digitalisierung, IT-Systeme und neue Geschäftsmodelle. Da ist es sinnvoll, sich mit guten, verlässlichen Partnern zu arrangieren.

«Als ­planbares System kann die Bahn wesentliche Vorteile einbringen.»

Nicolas Perrin

Im European Operations Center beim Frankfurter Flughafen verfolgen Disponenten jeden Tag rund 5000 Güter­züge von DB Schenker Rail auf ihrer Fahrt in 15 Ländern. Was bringt diese Zentralisierung?
HEDDERICH: Sie versetzt uns in die Lage, unsere Start-Ziel-Verantwortung wesentlich besser wahrnehmen. Es ist heute möglich, den kompletten Zugverkehr quasi auf einem einzigen Bildschirm abzubilden und rund um die Uhr aus einer Hand zu steuern. Wir verzeichnen jährlich in Europa ungefähr hundert mittlere und grössere Störfälle, die erhebliche dispositive Eingriffe in den Zugverkehr erfordern.

Die Transportbranche ist stark vom Tagesgeschäft geprägt. Wo setzen Sie die Prioritäten?
HEDDERICH: Unsere Branche ist im Spagat: Einerseits wird von uns gefordert, langfristig die Weichen für eine veränderte Zukunft zu stellen – und gleichzeitig sind wir im Tagesgeschäft einer extremen Kurzatmigkeit ausgesetzt. Ein Beispiel: Von den Zügen, die wir am Freitag fahren, kennen wir am Montag fünf Prozent noch nicht. Und fünf Prozent von den Zügen, von denen wir am Montag glauben, dass wir sie am Freitag fahren werden, werden aus irgendwelchen Gründen ausfallen. Im Personenverkehr hingegen kann man schon im Januar den Dienstplan des Lokführers für kommende Weihnachten machen.

Wie schätzen Sie die Zukunft des Schienengüterverkehrs in Europa ein?
HEDDERICH: Die Eisenbahn ist traditionell mit grossen Vermögenswerten wie Anlagen, Werkstätten, Lokomotiven oder Güterwagen gesegnet. Wenn es uns gelingt, diese durch kluge Prozesse, moderne IT und Innovationen effizienter zu machen, können wir die grosse Hebelwirkung einsetzen. Wichtig ist aber auch, dass die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen bietet. Investitionen wie am Gotthard sind ein positives Beispiel. Sorgen macht mir aber, dass wir zunehmend riesige Investitionen bewältigen müssen, die uns im Wettbewerb nicht weiterbringen, so etwa in das europäische Leit- und Sicherungssystem ETCS. Und in Deutschland zahlen wir mittlerweile dreistellige Millionenbeträge zur Finanzierung der Energiewende, während der Strassengüterverkehr da nichts beiträgt. Es darf nicht sein, dass ausgerechnet der Verkehrsträger, der ökologische Transporte gewährleisten soll, offenkundig benachteiligt wird.

PERRIN: Ich teile die Ansicht von Herrn Hedderich, dass wir zu viel in den Erhalt unserer bestehenden Fähigkeiten investieren müssen und dann Innovation zu kurz kommt. So werden Entwicklungen gebremst, die grosses Markt- und Effizienzpotenzial haben. Wenn wir dieses Potenzial erschliessen können, werden wir auch langfristig als Verkehrsträger attraktiv sein. SBB Cargo wird alles daran setzen, hier vorne mitzuspielen. Zudem spricht die Infrastruktursituation in Westeuropa für uns. Diese wird in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht wesentlich ausgebaut werden. Daher werden wir die bestehenden Strukturen so gut wie möglich nutzen müssen. Im Umfeld einer zunehmenden Verkehrsüberlastung kann die Bahn als planbares System wesentliche Vorteile einbringen. Diese Trumpfkarte müssen wir in der Verlagerungspolitik unbedingt einsetzen.

Gemeinsames Interesse an einem starken Schienengüterverkehr: N. Perrin (r.), A. Hedderich.
Gemeinsames Interesse an einem starken Schienengüterverkehr: N. Perrin (r.), A. Hedderich.

Der Einzelwagenladungsverkehr gilt als Königsdisziplin im Schienengüterverkehr. Welche Prognosen sehen Sie für die Zukunft?
HEDDERICH: Hier kann die Güterbahn beweisen, wozu sie fähig ist: Einzelne Wagen und Wagengruppen in der Fläche einsammeln, über verschiedene Konfigurationspunkte führen und bündeln, dadurch bei sehr hoher Flächigkeit Grössenvor­teile entfalten – so verknüpfen wir im europäischen Einzelwagenladungsverkehr rund 8000 mal 8000 Destinationen miteinander. Das ist schon deutlich anspruchsvoller als einen Zug aus einem Hafen in ein Containerterminal zu fahren.

PERRIN: Im Einzelwagenladungsverkehr kann die Bahn ihre Systemvorteile der Bündelung mit den konventionellen Bahnwagen am stärksten spielen, zusammen mit einer auf die Kunden abgestimmten Logistik. Generell sollte man nicht die Fähigkeiten des einen Verkehrsträgers gegen die Schwächen des anderen ausspielen, sondern jeder soll aus seinen spezifischen Möglichkeiten das Optimum herausholen und einbringen. Es gibt noch einiges an Innovationspotenzial, das wir in den kommenden Jahren anpacken müssen. Wir arbeiten teilweise mit veralteten Prozessen, ich denke da etwa an die Schraubkupplungen.

Wenn Sie privat ins Tessin reisen: Fahren Sie lieber durch den Tunnel oder über den Pass?
PERRIN: Auch wenn es in erster Linie ein Gütertunnel ist, freue ich mich darauf, eine Stunde rascher im Tessin und Norditalien zu sein. Meine Kollegin Jeannine Pilloud wird analog zu SBB Cargo ein attraktives Angebot im Personenverkehr aufbauen, das ich gerne nutzen werde.

Sie sind privat gerne auf Reisen. Wo waren Sie zuletzt?
HEDDERICH: Mit meiner Familie war ich in Dubai. Bei dieser Gelegenheit konnte ich gleich noch dienstlich unserer neuen Gesellschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten einen Besuch abstatten.

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