Seit rund 100 Jahren verpflegt die «Milchchuchi» in Erstfeld rund um die Uhr SBB-Mitarbeiter und andere Gäste. Doch der Ort ist mehr als nur eine einfache Kantine.
Kann ein Restaurant Heimat sein? «Ja», sinniert Manuela Lüönd, «das Gefühl habe ich schon. Das sind wir sicher ein Stück weit.» Heimat … das ist wohl dort, wo man sich kennt, sich geborgen fühlt. Wo die Türe rund um die Uhr offen steht und immer ein warmes Essen auf den Tisch kommt. Wie hier, im Zentrum von Erstfeld, in der «Milchchuchi». Ein Restaurant, das von Montag 5.00 Uhr bis Sonntag 14.00 Uhr durchgehend geöffnet ist. Dessen Menus permanent erhältlich sind und wo der Kaffee nur 2.80 kostet – ein herzliches Lachen, eine freundschaftliches «Du» inbegriffen. Heimat eben. Hier sitzt man so lange man will, hier wird keiner rausgeschmissen.
Ein kleines SBB-Dorf
Doch nicht nur wegen der Preise und dem Rund-um-die-Uhr-Betrieb kommen viele gerne hierher. Heimat ist eben auch, wo man unter sich ist. Fast alle kennen sich beim Namen, hier treffen Generationen aufeinander. «Anders als in anderen Betrieben ist es viel familiärer. Wie ein kleines SBB-Dorf eben. Alle haben das gleiche Thema, duzen sich schnell. Meine Gäste sind bodenständige Menschen, unkompliziert gestrickt», erklärt die Chefin. «Morgens kommen jeweils die SBB-Pensionierten, und dann wird nur über die Bahn geredet, über die Vergangenheit und die Zukunft.»
Von der Vergangenheit erzählen kann auch Karin Roner; seit 24 Jahren steht sie hier am Herd. «Vor Jahren war hier viel mehr los, da arbeiteten wir schon morgens zu viert in der Küche. Doch der Andrang wurde mit der Zeit immer weniger.» Lange Jahre, lange Öffnungszeiten, da kann man doch sicher viel erzählen? Von Karin Roner kommt ein lautes, herzliches Lachen. «Früher hatten wir Clochards. Keine Ahnung, woher die kamen. Die haben hier ihre Socken gewaschen.» Dann denkt sie nach und schüttelt den Kopf. «Aber mehr kann ich beim besten Willen nicht erzählen. Bei uns gibt es keinen Alkohol, daher bleiben spannende Geschichten wohl aus.»
Sie lacht wieder und erinnert sich an diesen Clochard, der sich mit seinem Pudel voller Flöhe in das WC eingeschlossen hat und nicht mehr rauswollte. Erst die Polizei konnte da weiterhelfen. Und dann kommen doch noch weitere Geschichten. Von schrägen Vögeln, die man in der «Milchchuchi» wie in einer guten Familie einfach leben lässt. Wie diesen Pensionierten, der den Gästen stundenlang laut die Zeitung vorliest. «Solche Originale gibt es ein paar. Bei uns kann man eben noch sein, wie man ist. Wir alle haben doch irgendeinen Vogel», schmunzelt die Köchin und erinnert sich weiter: «Früher hatte hier jeder Tisch seine Bedeutung, je nachdem, woher die Gäste kamen. Da war der Tessiner Tisch, hier der Basler Tisch und dort der Vorstandstisch.» Gemeint sind die Bahnhofsvorstände. «Das war strikte getrennt und wehe, jemand ist am falschen Ort hingesessen.»
Doch heute gibts keine Hierarchien mehr. Sowieso hat sich viel geändert. Bis 2005 war die «Milchchuchi» ein dunkles, speckiges Lokal. «Gar nicht einladend. Wirklich alt. Richtig alt», wiederholt Manuela Lüönd und verzieht das Gesicht. Dann wurde umgebaut, modernisiert. Die alte elektrische Schalttafel, auf dem die Lokführer die aktuelle Position der Züge sehen konnten, ist einem Computerterminal gewichen. Der Fortschritt ist eben nicht aufzuhalten – ausser beim Namen. Auch wenn an der Eingangstüre ein modernes «chez SBB» prangt, die «Milchchuchi» bleibt bei den Gästen die «Milchchuchi». «Man wollte uns schon ein paarmal umtaufen», erzählt Karin Roner. «Aber das kannst du vergessen, das geht gar nicht.» Modernes Marketing geht manchmal an den Leuten vorbei. Dabei ist «Milchchuchi» doch ein guter Name. «Personalrestaurants» oder «Chez irgendwas» gibts wahrlich genug.
Und Karin Roner ergänzt mit ihrer Erfahrung und einem weiteren Lachen: «In den letzten 24 Jahren habe ich schon oft gehört, dass wir bald zumachen müssen. Aber wie heisst es? Totgesagte leben länger!» So schnell lässt man sich seine Heimat nicht nehmen.