Das grosse Automatisieren

Facelifting einmal anders: Der in die Jahre gekommene Schienengüterverkehr in der Schweiz braucht dringend eine Verjüngungskur. Dafür besorgt sind mehrere Innovationsteams von SBB Cargo mit teils sehr umfangreichen Projekten.

«Wer nicht an die Zukunft denkt, wird bald grosse Sorgen haben.» Das Zitat des chinesischen Philosophen Konfuzius – obwohl lange vor unserer Zeit entstanden – könnte die Situation von SBB Cargo nicht treffender umschreiben. Das Bahnunternehmen sorgt schon heute aktiv dafür, dass es morgen nicht vor zu grossen Problemen steht. Einerseits ist der Schienengüterverkehr stark unter Druck. Die Wettbewerbsfähigkeit der Strasse dürfte weiter zunehmen, Elektrofahrzeugen und selbstfahrenden Autos sei Dank. Ausserdem machen digitale Lösungen und verbesserte Logistikprozesse den Warentransport auf der Strasse künftig noch schneller und effizienter. Andererseits muss sich SBB Cargo als Arbeitgeberin dem demografischen Wandel stellen und sich auf den Generationenwechsel vorbereiten. Weil Berufe wie Rangierer und Lokführer bei jungen Arbeitnehmenden wenig beliebt sind, droht ein Personalmangel. Diesen gilt es ebenso aufzufangen wie die prognostizierte Zunahme an Güterströmen infolge der wachsenden Bevölkerung.

Um den von Konfuzius vorhergesagten «grossen Sorgen» vorzubeugen, investiert SBB Cargo bereits seit Längerem in innovatives, intelligentes Rollmaterial und in die Automation von Betriebsabläufen. Als erste Güterbahn Europas treibt SBB Cargo beispielsweise den Einsatz der automatischen Kupplung und die Einführung der automatischen Bremsprobe voran. Zusammen mit dem Kollisionswarnsystem bilden die beiden Innovationen den sogenannten Ein-Personen-Betrieb. Dieser ist zentral für den von SBB Cargo angestrebten teilautomatisierten Bahnbetrieb.

Ein-Personen-Betrieb

1. Automatische Kupplung

Ausgangslage: Das Rangieren von Güterwagen kostet viel Geld und Zeit und ist in seiner heutigen Form sehr ineffizient. Zudem ist die Arbeit für die Rangierspezialisten körperlich anstrengend und wenig ergonomisch.

Ziel: Mit der automatischen Kupplung werden Wagen und Lokomotiven automatisch zusammengehängt. Das ge­schieht durch langsames Zusammenschieben der Wagen. Zum Entkuppeln ist nur ein Handgriff nötig, ein Kabelzug wird dabei manuell betätigt. Das neue System beschleunigt den Rangiervorgang und erhöht die Sicherheit für das Rangierpersonal.

Aktueller Stand: Seit Mai 2019 sind 100 Wagen und 25 Lokomotiven mit der automatischen Kupplung im Regel­betrieb unterwegs. Die Züge transportieren Güter im kombinierten Verkehr zwischen dem Hub in Dottikon und den Terminals in Dietikon, Oensingen, Renens, Cadenazzo und Lugano Vedeggio sowie nach Biasca und Mendrisio.

2. Automatische Bremsprobe

Ausgangslage: Für die manuelle Bremsprobe läuft ein technischer Kontrolleur heute zweimal den Zug entlang und prüft, ob sich die Bremsen ordnungsgemäss anlegen und lösen lassen. Bei einem 500 Meter langen Zug dauert dieser Vorgang bis zu vierzig Minuten.

Ziel: In Zukunft werden der technische Zustand der Fahrzeuge durch Sensoren überprüft und der Bremsstatus per Funk an den Lokführer übermittelt. Die Bremsprobe dauert statt vierzig noch rund zehn Minuten. Zusammen mit dem Kollisionswarnsystem auf der Rangierlok – einer mit visuellen und akustischen Signalen weiterentwickelten Funkfernsteuerung – soll die Zugvorbereitung dann mit nur noch einem Mitarbeiter möglich sein.

Aktueller Stand: Seit Sommer 2019 wird die automatische Bremsprobe getestet. Die Inbetriebnahme mit allen Sicherheitsfunktionen ist für Frühjahr 2020 vorgesehen.

Die Umrüstung der Loks und Wagen auf die neuen Systeme kostet SBB Cargo rund 15 Millionen Franken. 9 Millionen Franken oder sechzig Prozent der Investitionskosten steuert das Bundesamt für Verkehr (BAV) bei. Für dessen Direktor Peter Füglistaler steht fest, dass das Pilotprojekt keine Schweizer Sonderlösung bleiben, sondern als Vorbild für andere europäische Güterbahnen dienen soll. «Es ist klar unsere Ambition, das gute Beispiel in ganz Europa zu etablieren», sagte Füglistaler anlässlich der offiziellen Einführung der automatischen Kupplung Anfang Mai 2019. Und Nicolas Perrin, CEO von SBB Cargo, sprach gar von einem historischen Vorhaben: «Ich hoffe, dass wir damit für den Schienengüterverkehr Geschichte schreiben.» Bei der Entwicklung der automatischen Kupplung und der automatischen Bremsprobe setzt SBB Cargo auf die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern (Unternehmen wie Voith, PJM, VTG und den beiden Güterbahngesellschaften Rail Cargo Austria und Mercitalia).

Wenn sich die neuen Systeme im Regelbetrieb bewähren, dürfen sich die Kunden von SBB Cargo in Zukunft über schnellere und stabilere Transporte freuen. Zudem lanciert das Bahnunternehmen ein neues, umfassendes Kundenportal. Weitere Innovationsprojekte sind die Projekte «Kollisionswarnsystem» und «Neue Prüflogik».

3. Kollisionswarnsystem

Ausgangslage: Die Zugabfertigung erfolgt heute meistens durch zwei Mitarbeitende. Ein Mitarbeiter verantwortet den Rangierbetrieb, während ein anderer die Lokomotive fährt.

Ziel: Künftig soll der Fahrweg auf der Seite der Rangierlok mit Funkfernsteuerung, Sensortechnik und Bildübertragung kontrolliert werden. Dadurch kann der Betrieb teilautonom erfolgen. Das Kollisionswarnsystem ist – neben der automatischen Kupplung und Bremsprobe – die dritte Komponente für den Ein-Personen-Betrieb.

Aktueller Stand: Im Herbst 2019 stehen funktionale Tests an.

Neue Prüflogik

Ausgangslage: Güterwagen müssen täglich auf verschiedene Merkmale kontrolliert werden. Heute erfolgt die technische Kontrolle ausschliesslich manuell. Bei Änderung der Ladung sind sogar mehrere Kontrollgänge pro Tag vorgeschrieben.

Ziel: Streckenseitig installierte Anlagen wie Sensoren und Kameras (Wayside Intelligence) sowie intelligente Elemente an den Güterwagen selbst (Asset Intelligence) sollen den aktuellen Wagenzustand so umfassend darstellen, dass eine systematische manuelle Prüfung vor jeder Abfahrt des Zuges nicht mehr notwendig ist. Allfällige Schäden können dann bequem vom Computer aus überprüft und dokumentiert werden.

Aktueller Stand: Seit Herbst 2017 ist eine erste Pilotanlage installiert. Das System wird laufend weiterentwickelt, Ende 2019 geht das erste digitale Control-Center in den Testbetrieb.

Neuer Güterwagen «5L next»

Im Juni 2019 präsentierte SBB Cargo den neuen Güterwagen «5L next – nächste Generation Güterwagen» an der Fachmesse «transport logistic» in München. «5L» steht für leicht, leise, laufstark, logistikfähig und Lifecycle-Cost-orientiert. Im Gegensatz zur ersten Version des 5L-Zuges, bei der ein bestehender Bahnwagen mit neuen Elementen ausgestattet wurde, handelt es sich beim «5L next» um die nächste Generation Güterwagen. Der Wagen ist komplett neu konstruiert mit leichteren Einzelteilen und einem geschraubten und genieteten statt geschweissten Chassis. Dank verschleissärmerer Drehgestelle und Scheibenbremsen verringern sich Schienenverschleiss und Energieverbrauch, was den neuen Güterwagen umweltschonender macht. Der standardisierte Unterbau wird mit intelligenten Oberbauten (z. B. Sensoren zur Tür- und Temperaturüberwachung) ergänzt, die sich an den Kundenbedürfnissen orientieren. Die Unabhängigkeit von Ober- und Unterbau bietet Kostenvorteile bei der Produktion des Wagens und ermöglicht einen flexiblen Einsatz sowie kürzere Produktlebenszyklen. Der neue Wagen ist bewusst nur noch auf eine Lebensdauer von zwanzig Jahren ausgerichtet, um Aufwände in der Instandhaltung und die Gesamtkosten für den Betrieb zu reduzieren. Zudem lässt er sich so besser weiterentwickeln, ist also «innovationsfreundlicher».

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