«Wir möchten in Zukunft noch sportlicher werden»

Désirée Baer, die neue Chefin von SBB Cargo, setzt auf zukunfts- und marktorientierte, innovative Lösungen, um das Ergebnis nachhaltig zu verbessern. Kurz vor der Stabübergabe am 1. März 2020 haben wir sie und ihren Vorgänger Nicolas Perrin zum Interview getroffen.

Frau Baer, welches ist Ihr Eindruck nach den ersten Tagen Ihrer Einarbeitungsphase bei SBB Cargo?

Désirée Baer: Ich treffe auf sehr engagierte Mitarbeitende, die offen sind für einen Führungswechsel und sich zur neuen Partnerschaft mit Swiss Combi (bestehend aus den Firmen Planzer, Camion Transport, Bertschi und Galliker) bekennen.

Herr Perrin, nach 13 Jahren geben Sie die Leitung bei SBB Cargo ab. Sind Sie wehmütig?

Nicolas Perrin: Es war eine sehr spannende und intensive Zeit, die ich bei SBB Cargo verbrachte. Es ist klar, dass mich der Abschied als Leiter des Unternehmens emotional bewegt. Ich freue mich aber, dass mit Désirée Baer eine kompetente Nachfolgerin gefunden wurde, und freue mich auf meine Zukunft.

Die Güterbahn hat bewegte Zeiten hinter sich. Welches war der schönste Moment?

Perrin: Sicher bleiben wird mir der Augenblick, als wir vor über 15 Jahren den ersten eigenen Zug mit SBB Cargo in Deutschland und in Italien fuhren. Nach der Liberalisierung des Schienengüterverkehrs hatten wir eine Pionierrolle eingenommen. Hervorheben möchte ich auch, dass wir 2013 zum ersten Mal nach über vier Jahrzehnten schwarze Zahlen schrieben. Zudem freut es mich, dass die Güterwagen im kombinierten Verkehr in der Schweiz seit einem Jahr automatisch gekuppelt werden. Das ist ein erster Schritt in die Zukunft des Schienengüterverkehrs. Letztlich zählt jedoch die Summe von allem – und die vielen positiven Begegnungen und Arbeiten mit Menschen.

Frau Baer, Sie bringen grosse Führungserfahrung mit: Zuletzt haben Sie die Securitrans geleitet, und früher waren Sie Geschäftsführerin des Start-ups Eyezone, eines Optik-Retailers. Haben Sie auch Führerstandserfahrung?

Baer: Bei der SBB fuhr ich schon öfter im Führerstand mit. Zwar noch nie mit einem Güterzug, aber mit Rangier- und Bauzügen. Ich lenkte sogar schon selbst das hochmoderne Unterhaltsfahrzeug für den Gotthardbasistunnel – auf einem Gleis beim Lieferanten. Es war ein sehr tolles Gefühl, die vielen PS zu spüren. Ich freue mich, wenn ich künftig auch mit unseren Mitarbeitenden regelmässig auf einem Güterzug mitfahren darf.

Was verbindet Sie mit der Güterbahn? Als Geschäftsleitungsmitglied bei SBB Infrastruktur waren Sie ja für Logistikprozesse verantwortlich.

Baer: Wir arbeiteten bei SBB Infrastruktur eng mit SBB Cargo zusammen, etwa beim Unterhalt der Flotte und bei Beschaffungen und Innovationen. Wir hegten auch Pläne für einen gemeinsamen Logistik-Hub in Hägendorf, verfolgten sie aber nicht weiter. Auch bei der Securitrans, die ich bis vor Kurzem leitete, arbeiteten wir für die Baulogistik mit SBB Cargo zusammen. Deshalb kannte ich schon einige Leute in diesem Unternehmen.

Die Logistikbranche ist eine Männerwelt. Wie kommen Sie damit klar?

Baer: In den letzten 25 Jahren bewegte ich mich beruflich nur in Männerwelten, ich begann ja in der Finanzbranche und arbeitete dann in der Beratungsbranche. Deshalb habe ich gar keine Bedenken. In der Geschäftsleitung von SBB Cargo sind wir nun übrigens mehr Frauen als Männer, das wird für mich eine neue Erfahrung sein.

Herr Perrin, Sie sind künftig als Verwaltungsrat von SBB Cargo tätig. Welches sind Ihre Ziele?

Perrin: Unsere Aufgabe ist primär, die Strategie des Unternehmens festzulegen und zusammen mit dem Management eine gute Planung sicherzustellen. Ich werde vor allem die Interessen der SBB und generell der Bahn einbringen. Das ist eine der Stärken der Schweiz, dass die Bahn als Gesamtsystem gedacht wird und nicht als Summe von Einzelinteressen. Zudem gehe ich davon aus, dass ich meine Erfahrung und mein Netzwerk einbringen kann. Sicher zurückhalten werde ich mich aus dem operativen Geschäft, aber das fällt mir auch nicht schwer, weil es in guten Händen ist.

Dank Sparmassnahmen hat SBB Cargo in den letzten zwei Jahren schwarze Zahlen geschrieben. Sind die Zeiten mit Verlusten vorbei?

Perrin: Nein, SBB Cargo ist noch nicht gesund. Wir haben immer gesagt, dass die Jahre 2019 und 2020 sehr herausfordernd werden. 2019 erzielten wir bloss wegen der Sondereffekte einen Gewinn. Das laufende Geschäftsjahr wird sehr schwierig. Durch die Marktsituation, den starken Franken und das Coronavirus stehen wir zurzeit im Gegenwind. Die aktuelle wirtschaftliche Situation des Unternehmens bleibt schwierig.

Baer: Das sehe ich auch so. Die Partnerschaft mit den vier Logistikdienstleistern hat sicherlich zu einem guten Spirit geführt und dazu, dass man noch sportlicher werden möchte. Ich fand immer, SBB Cargo sei innerhalb der SBB schon dynamisch. Man kann aber festhalten, dass die Marge in unserer Branche sehr gering ist, und wenn etwas nicht ganz rund läuft, rutscht man sofort in die Verlustzone. Hinzu kommt, dass der Druck für die Mitarbeitenden sehr gross und ihre Zufriedenheit ziemlich niedrig ist. Meine Aufgabe ist also nicht leicht. Das habe ich allerdings auch nicht erwartet.

Wo sehen Sie als Leiterin von SBB Cargo die grössten Herausforderungen für dieses Jahr?

Baer: Der Fokus muss sich auf ein positives operatives Jahresergebnis richten. Daneben werden wir Innovationsprojekte wie die automatische Bremsprobe und die automatische Kupplung bei den Zügen vorantreiben, welche die Geschwindigkeit und Effizienz erhöhen und positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeitenden haben.

Wie arbeiten Sie sich ins neue Amt ein? Werden Sie Kunden und Mitarbeitende besuchen?

Baer: Ich fahre in alle Regionen der Schweiz, um möglichst viele Mitarbeitende zu treffen. Auch Kundentermine sind schon zahlreiche geplant. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie verschiebt sich das persönliche Kennenlernen etwas. Trotzdem freue ich mich, hoffentlich bald zahlreiche Kunden persönlich begrüssen zu dürfen.

Herr Perrin, ab Sommer 2020 kommt bei SBB Cargo die automatische Bremsprobe im kombinierten Verkehr zum Einsatz. Was versprechen Sie sich von dieser Neuerung?

Perrin: Die automatische Bremsprobe ist zusammen mit der automatischen Kupplung ein weiterer Schritt hin zum Ein-Personen-Betrieb, der die letzte Meile effizienter macht. Die Mitarbeitenden müssen nicht mehr vor jeder Fahrt einmal komplett um den ganzen Zug herum schreiten und brauchen für die Bremsprobe eine halbe Stunde weniger. SBB Cargo ist in Europa die erste Güterbahn, die diese Neuerung im kommerziellen Betrieb einführt.

Inwiefern profitieren die Kunden?

Perrin: Vor allem durch die Zeitersparnis steigern wir unsere Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Strasse – im kombinierten Verkehr ist das ja ein zentraler Faktor. Mithilfe der Automation können wir auch einfacher rangieren, also zum Beispiel Wagen abhängen und dann mit dem restlichen Zug weiterfahren. Dadurch können wir flexiblere Angebote machen und uns besser neuen und dynamischen Marktentwicklungen anpassen.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Frau Baer, wie schalten Sie nach einem intensiven Arbeitstag ab – mit Netflix oder mit einem Buch?

Baer: Am liebsten mit beidem nacheinander (lacht). Wenn ich Zeit habe, schaue ich auch gerne Sportübertragungen wie Fussball und Tennis. Unter den Büchern, die ich kürzlich las, hat mich «Das glücklichste Volk» sehr fasziniert. Es geht um die Begegnung des amerikanischen Forschers Daniel Everett mit einem Amazonasvolk in Brasilien und die starke Verbindung von Sprache und Kultur. Ich habe Erkenntnisse für meinen eigenen Alltag gewonnen. Wenn ich zum Beispiel Kunden in der Romandie besuche, würde ich nie Englisch reden. Man kommt viel eher an die Menschen heran, wenn man ihre Sprache spricht – in dem Fall also Französisch. Und im Tessin Italienisch.

Herr Perrin, werden Sie in Zukunft auch wieder mehr Zeit zum Lesen finden?

Perrin: Ich hoffe es. Bisher habe ich vor allem Akten gelesen und hoffe, mir künftig wieder vermehrt Belletristik und Sachbücher zu Gemüte zu führen.

Was haben Sie neben Ihrem Verwaltungsratsmandat für SBB Cargo sonst noch für Pläne?

Perrin: Ich werde auch Verwaltungsratspräsident bei der Ruag MRO Schweiz. Diese erbringt Dienstleistungen für das VBS. Ich freue mich sehr auf diese Aufgabe in einer für mich neuen Branche. Ich befürchte, dass ich in Zukunft nicht weniger arbeiten werde, bin aber froh, wenn ich nicht mehr so stark fremdbestimmt bin.

Das letzte Wort gehört Ihnen, Frau Baer: Gibt es etwas, das Sie noch anfügen möchten?

Baer: Ich freue mich auf die Treffen mit Kunden und Mitarbeitenden und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit zum Wohl einer nachhaltigen Schweizer Wirtschaft.

Fotos: Daniel Winkler

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