«Eine Bahn ohne Güterverkehr ist keine echte Bahn»

Für SBB CEO Vincent Ducrot und Désirée Baer, CEO SBB Cargo, ist klar: Ein attraktives Angebot und solide Finanzen sind der Schlüssel für die Zukunft von SBB Cargo. Was das genau heisst, was sie sich von der Politik wünschen und warum die SBB hinter SBB Cargo steht, verraten sie im Interview.

Vincent Ducrot sagte im März 2021: «SBB Cargo schreibt weiterhin Verluste. Die Coronakrise hat die Probleme, die uns bekannt sind und die wir lösen müssen, verschärft.» Welche Probleme haben Sie bis jetzt gelöst?

Vincent Ducrot: Wir haben Gespräche mit dem Eigner der SBB über die Ausrichtung von SBB Cargo begonnen. Entweder muss SBB Cargo eigenwirtschaftlich agieren, oder SBB Cargo führt einen verlagerungspolitischen Auftrag aus und erhält dafür Unterstützung. Momentan geht es in diese Richtung. Das heisst: Der Eigner erwartet, dass SBB Cargo agil und effizient wirtschaftet. Er wäre jedoch bereit, einen Beitrag zu zahlen, wenn auch nicht effiziente Geschäfte zur Verlagerung auf die Schiene und damit zum Erreichen der Klimaziele beitragen.

Désirée Baer: Bis die Klärung der strategischen Ausrichtung durch Eigner und Politik erfolgt ist, geht es für SBB Cargo darum, die Verluste möglichst gering zu halten. Dafür sind wir dieses Jahr auf gutem Weg: Wir haben unsere Produktivität 2021 weiter gesteigert, die Halbjahreszahlen zeigten das. Insbesondere durch operative Verbesserungen wie Optimierungen im Netz und die Reduktion von Strukturkosten haben wir dies erreicht.

Peter Füglistaler, der Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), sagte in einem Interview im September 2021: «Die SBB müssen den Güterverkehr auf das gleiche Niveau wie den Personenverkehr bringen.» Was sagen Sie dazu?

Ducrot: Unsere Strategie sieht vor, den Güterverkehr zu stärken. SBB Cargo ist eine Perle, und ich sehe viel Potenzial. Mir ist auch wichtig, dass wir den Güterverkehr zusammen mit dem Personenverkehr entwickeln. Es geht nicht, einen von beiden links liegen zu lassen.

Baer: Von der Gleichberechtigung sind wir noch entfernt. Das ist jedoch nicht nur Sache der SBB, sondern auch der Politik. Für Politiker ist es attraktiver, einen neuen Bahnhof oder einen Viertelstundentakt zu verkaufen als Logistik. Hier müssen SBB und SBB Cargo für Akzeptanz kämpfen.

Erhält die Logistikbranche generell zu wenig Aufmerksamkeit?

Baer: Ja. Logistik ist für Wirtschaft und Gesellschaft unabdingbar, aber sie wird nicht geschätzt. Es ist ein bisschen wie bei den Pflegenden: Sie wurden auch nicht beachtet, bis Corona kam. Bei der Logistik ist das ähnlich: Solange es läuft, ist sie unsichtbar.

Ducrot: Ja. Man redet erst darüber, wenn Häfen lahmgelegt sind oder ein Schiff den Suezkanal blockiert. Das ist sehr bedenklich.

SBB Cargo ist eine Perle, und ich sehe viel Potenzial.
Vincent Ducrot, CEO SBB AG

Die SBB hat SBB Cargo in den letzten Jahren finanziell unterstützt. Warum hält die SBB überhaupt an SBB Cargo fest?

Ducrot: Eine Bahn ohne Güterverkehr ist keine echte Bahn. Wie wichtig der Güterverkehr ist, zeigte die Coronakrise: Wir waren das Rückgrat der Schweiz. Die Passagiere blieben zu Hause, aber die Güter reisten weiter – fast so viele wie nie zuvor. Man sagt immer, der Personenverkehr der Bahn sei ein Standortvorteil der Schweiz. Das gilt aber auch für den Güterverkehr.

Wie stellen Sie sich die Zukunft von SBB Cargo vor, insbesondere im Binnengüterverkehr?

Baer: Wir möchten ein attraktives Angebot, das Kundenbedürfnisse erfüllt, zur Verlagerung und damit zum Klimaschutz beiträgt und finanziell auf gesunden Beinen steht. Ich möchte nicht von Sanierung zu Sanierung rennen. Das heisst, wir machen nur das, was rentabel ist – oder es braucht finanzielle Unterstützung durch die Politik. Es kann nicht sein, dass die SBB immer wieder ein Loch beim Güterverkehr stopft.

Ducrot: Genau.

Wie kann SBB Cargo für den Markt attraktiver werden?

Baer: Wir müssen die Logistikthemen der Kunden besser verstehen und massgeschneiderte Lösungen anbieten. Ausserdem nehmen die Ansprüche zu. Detailhandel, Paketpost und Stückgut haben immer höhere Anforderungen an die Pünktlichkeit. Das können wir nur im Gesamtsystem Schiene lösen. Gerade deshalb ist die Gleichberechtigung mit dem Personenverkehr so wichtig.

Ducrot: Es muss möglich sein, Fahrten kurzfristiger zu planen. Wir brauchen ein flexibles System. Ausserdem müssen wir die ganze Logistikkette besser mit IT unterstützen. Der Kunde möchte End-to-End-Lösungen.

Baer: Dem stimme ich zu: Flexibilität ist für den Güterverkehr sehr wichtig. Wir prallen jedoch auf ein starres Taktsystem im Personenverkehr. An der IT-Unterstützung des End-to-End-Prozesses arbeiten wir, aber wir haben noch einen weiten Weg zu gehen.

Flexibilität ist für den Güterverkehr sehr wichtig.
Désirée Baer, CEO SBB Cargo AG

Wie kann das Bahnsystem flexibler werden?

Ducrot: Es braucht Anpassungen bei der IT. Aber es braucht vor allem Änderungen an den Mechanismen: Unser System basiert auf dem bewährten Taktfahrplan und einem Netznutzungsplan, der Jahre im Voraus entwickelt wird. Daran halten wir auch in Zukunft fest, aber: Das System ist dadurch starr. Daran arbeiten wir und sind mit dem BAV im Gespräch, wie das System flexibilisiert werden kann. Es ist auch im Interesse des BAV, das System in Richtung Flexibilität weiterzuentwickeln.

SBB Cargo ist immer am Sparen. Wie viel Sparen geht überhaupt noch, um die Leistung noch erbringen zu können?

Baer: Mit Vereinfachen können wir noch viel bewirken: durch Automatisierung, effizientere Prozesse und Digitalisierung. Das soll in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess geschehen, nicht in einer Sanierung. Eine Sanierung nach der anderen ist ungesund. SBB Cargo hat sich in der Vergangenheit teils gesundgeschrumpft und teils Reserven verbraucht. Wir haben zum Beispiel eine alte Flotte und keine Rückstellungen, um eine neue zu beschaffen.

Wo genau kann SBB Cargo einfacher werden?

Baer: In der Planung. Die kann man – digital unterstützt – einfacher machen. Aber auch im operativen Geschäft, beispielsweise beim Rangieren. Die manuelle Bremsprobe nimmt knapp eine Stunde in Anspruch. In dieser Zeit ist ein Lkw schon von Basel nach Zürich gefahren.

Ducrot: Die Technologie ist bei Cargo lange vernachlässigt worden. Es ist entscheidend, hier einen Schritt zu machen. Ich bin sehr froh über die automatische Kupplung und hoffe, dass sie europäischer Standard wird. Die Zeichen dafür stehen gut: Ende September 2021 hat die Branche in der Schweiz eine Absichtserklärung für die automatische Kupplung unterzeichnet, und in Europa hat sich die Branche auf einen einheitlichen Kupplungskopf geeinigt.

Vereinfachen, aber massgeschneiderte Lösungen anbieten wollen: Ist das nicht ein Widerspruch?

Baer: Ja. Massgeschneiderte Lösungen für jeden Einzelnen verkomplizieren das System. Deshalb ist das nur für grosse Kunden möglich.

Was erwarten Sie als CEO der SBB und Verwaltungsrat der Tochtergesellschaft von SBB Cargo?

Ducrot: Qualität! SBB Cargo muss Güter pünktlich und sicher transportieren. Wir haben heute zu viele Unregelmässigkeiten.

Was erwarten Sie als CEO von SBB Cargo von der Muttergesellschaft SBB?

Baer: Ich bin dankbar, dass die SBB uns bei roten Zahlen immer wieder geholfen hat. Schade finde ich, dass der Güterverkehr zu wenig Beachtung findet. SBB Cargo ist einer der wichtigsten Akteure in der Schweizer Transportlogistik, und wir sind wettbewerbsfähig – die zahlreichen Ausschreibungen, die wir gewinnen, beweisen es. Ausserdem sind wir in Europa Innovationsführerin. Darauf sollten wir genauso stolz sein wie auf den Personenverkehr. Deshalb sollte SBB Cargo nicht nur bei der Veröffentlichung des Jahresergebnisses ein Thema sein.

Die Flotte von SBB Cargo kommt langsam in die Jahre. Welche Investitionen in die Flotte hat SBB Cargo geplant?

Baer: Wir müssen in den kommenden Jahren das gesamte Lokportfolio erneuern. Das ist für die Qualität und die Kosten relevant. Doch dies erfordert eine Investition, die wir momentan nicht tätigen können. Hinzu kommt die Unsicherheit aufseiten der Politik. Deshalb werden wir zuerst neue Loks mieten.

Ducrot: Eine moderne Flotte ist die Basis für den Erfolg. Sie erlaubt Flexibilität, Qualität und spart Kosten, da sie weniger Unterhalt benötigt.

Welche drei Dinge nehmen Sie nächstes Jahr als Erstes in Angriff?

Baer: Als Erstes möchte ich im Winter die Mitarbeitenden im Betrieb besuchen und natürlich Anfang 2022 möglichst viele Kunden zum persönlichen Austausch treffen. Dann wird mich der politische Prozess zur strategischen Ausrichtung für eine gesunde SBB Cargo beschäftigen. Und zu guter Letzt muss SBB Cargo auch 2022 von Beginn weg an der Effizienz arbeiten. Sowohl beim Umsatz als auch bei den Produktivitätssteigerungen haben wir hohe Ziele.

Foto: Daniel Winkler

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