«Der Schienengüterverkehr ist zentral für eine funktionierende Wirtschaft»

Die Zukunft des Schienengüterverkehrs, und insbesondere des Wagenladungsverkehrs, wird von der Politik neu verhandelt. Im Gespräch beziehen SBB Cargo CEO Désirée Baer und Nationalrat Jon Pult klar Stellung. Die Schweiz ohne Wagenladungsverkehr ist undenkbar: wirtschaftlich und gesellschaftlich.

Wie wichtig ist der Schienengüterverkehr (SGV) für die Schweiz? Aktuell läuft auf politischer Ebene der Prozess zur Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für den Schweizer Gütertransport. Dabei geht es um Vorschläge für einen stärkeren Beitrag zur Senkung des CO2-Ausstosses und Erhöhung der Energieeffizienz durch den Schienengüterverkehr sowie um ein Konzept für die Finanzierung und Umsetzung von dessen Automation und Digitalisierung. Zwei Varianten stehen zur Debatte. Variante 1 sieht vor, den Wagenladungsverkehr (WLV) finanziell zu fördern und den Schienengüterverkehr als Ganzes technisch zu modernisieren. Ziel: Das Netz des Wagenladungsverkehrs auch in Zukunft aufrechterhalten und weiterentwickeln. Bei Variante 2 sind keine Subventionen vorgesehen, der Schienengüterverkehr wird wie in Variante 1 modernisiert. Heisst konkret: SBB Cargo muss weiterhin eigenwirtschaftlich arbeiten. Der Wagenladungsverkehr, der nicht rentabel betrieben werden kann, würde endgültig eingestellt.

Was leistet der Schienengüterverkehr für die Schweiz?
DB: Er ist zentral für eine funktionierende Wirtschaft, für die Versorgungssicherheit der Gesellschaft. Er ist Teil der Klima- und Energiepolitik.

JP: Der Schienengüterverkehr ist auch Teil der schweizerischen Identität. Als Präsident des Vereins Alpen-Initiative höre ich immer wieder, es gäbe für den Schienengüterverkehr auch für den Binnentransport einen gesetzlichen Auftrag. Dem ist leider nicht so, aber diese Fehlannahme der Bevölkerung zeigt, wie gut der Schienengüterverkehr verankert ist. Es ist ja klar: Besonders bei längeren Distanzen ist die Schiene umweltfreundlicher, braucht weniger Fläche, weniger Energie und macht die Strassen sicherer, weil weniger verstopft. Diese Vorteile müssen wir unbedingt verteidigen.

Aktuell steht vor allem der Wagenladungsverkehr im Fokus, ein wichtiger Teil des Angebotes von SBB Cargo. Wieso ist er für die Schweiz so wichtig?
DB: Über den Wagenladungsverkehr können auch kleinere Mengen gebündelt und in der ganzen Schweiz verteilt werden. Es gibt ja nicht nur die grossen Wirtschaftszentren; auch abgelegene Regionen und ländliche Gebiete sind via Schiene miteinander verbunden. Zudem geht der Markttrend Richtung schnellere Lieferfristen, sodass die Transportmengen weiter sinken; der Wagenladungsverkehr erlaubt die nötige Bündelung. Er wird auch in Zukunft seine grosse Bedeutung nicht verlieren. Fällt der Wagenladungsverkehr weg, landet das alles auf der Strasse.

JP: Ohne den Wagenladungsverkehr sind rund 600 000 zusätzliche Lastwagenfahrten nötig, um die Waren zu verteilen. Das bedeutet deutlich mehr Stau, weniger Verkehrssicherheit, mehr Lärm und CO2-Ausstoss. Ein Verlust des Wagenladungsverkehrs wäre mit schwerwiegenden Konsequenzen für Wirtschaft und Bevölkerung verbunden.

Herr Pult, die Politik ist doch für eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene.
JP: Wir haben einen klaren Verfassungsauftrag für eine Verlagerung im Transitverkehr; im Güterverkehr im Inland, dem sogenannten Binnengüterverkehr, oder im Import-Export-Verkehr bisher nicht. SBB Cargo und ein paar andere Akteure machen das zum Glück trotzdem, eigenwirtschaftlich ist das aber nicht zu stemmen. Wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen so bleiben, wird SBB Cargo massiv abbauen müssen. Um den Binnengüterverkehr zu erhalten, muss die Politik nun die Voraussetzungen dafür ändern. Diese Tatsache gilt es, zu akzeptieren.

Seit 2016 gibt es bereits das revidierte Gütertransportgesetz. Wieso soll es nun wieder angepasst werden?
JP: Der Teil des aktuellen Gütertransportgesetzes, der besagt, der Schienengüterverkehr müsse immer und in jedem Fall eigenwirtschaftlich sein, basiert auf einem Grundlagenirrtum. Nämlich der Annahme, dass die Akteure und vor allem SBB Cargo, mit ein wenig Druck schon «fitter» würden. Das war einfach keine realistische Einschätzung. Der Status quo zeigt das deutlich und jetzt muss die Politik Konsequenzen ziehen: entweder eine Verlagerung auf die Strasse riskieren – was ich fatal fände – oder neue finanzielle Rahmenbedingungen schaffen.

DB: SBB Cargo befindet sich in einem Spannungsfeld. Einerseits erwartet man Eigenwirtschaftlichkeit, sodass wir die unrentablen Verkehre einstellen müssen. Andererseits will die Politik die Konsequenzen der Rückverlagerung nicht tragen. So muss SBB Cargo weiterhin unrentable Verkehre fahren und widerspricht damit den Zielvorgaben des Bundes. Es gilt nun zu klären, was die Politik will, und danach die Konsequenzen zu akzeptieren.

JP: Ich arbeite dafür, dass sich die Politik richtig entscheidet und dem Schienengüterverkehr in der Fläche eine Zukunft gibt. Jetzt gilt es, das Gesetz dort zu verbessern, wo es offensichtlich ungenügend ist.

Variante 1 bedeutet eine umfangreiche Förderung des Wagenladungsverkehrs, Variante 2 sieht lediglich Anreize für Verlader vor. Welche wären das?
DB: Anreize für Verlader gibt es in beiden Varianten. Der Bundesrat möchte die Verlader mit einem Beitrag pro Ver- und Entlad unterstützen. Wir unterstützen dies gemeinsam mit unseren Kunden! Wie dieses Instrument konkret gestaltet wird, gilt es dann in der nächsten Phase zu definieren. Bei Variante 1 kommen einfach noch weitere Massnahmen hinzu.

Könnten allfällige Anreize denn überhaupt die Überlebenschancen des Wagenladungsverkehrs sichern?
DB: Es ist schwierig vorauszusagen, ob diese Anreizinstrumente für die Verlader dort wirken, wo der Verkehr bisher unrentabel ist. Wir gehen davon aus, dass der Wagenladungsverkehr eingestellt wird, spricht sich die Politik nur für Anreizinstrumente aus.

Was wären Alternativen für den Güterverkehr?
DB: Momentan sicherlich die Strasse. Ein Problem dabei ist das Nachtfahrverbot – das müsste man aufweichen. Aktuell werden viele zeitsensitive Güter nachts auf Schienen transportiert. Ob man genügend Chauffeur:innen findet, die diesen Job machen wollen, ist eine andere Frage.

Bleibt das Gesetz von 2016, bedeutet das eine massive Rückverlagerung auf die Strasse. Sind Klimaziele doch nicht so wichtig?
JP: Natürlich wäre das ein Rückschritt. Angenommen, Lastwagen würden in nicht allzu ferner Zukunft klimaneutral fahren, so bliebe immer noch das Problem mit der Fläche und der Energie. Das ist mir als Argument ebenso wichtig, wenn nicht sogar etwas wichtiger als die Klimapolitik. Es ist unmöglich, eine gleich gute Flächen- und Energieeffizienz auf der Strasse hinzubekommen, wie dies auf der Schiene heute bereits der Fall ist. Und mit technologischen Verbesserungen, wie etwa der digitalen automatischen Kupplung oder der automatischen Bremsprobe, wird sich diese Effizienz noch steigern. Die Eisenbahn ist beim Transport von Gütern unschlagbar, wenn es um die Effizienz von Energie- und Flächennutzung geht. Das ist auch strategisch wichtig für unsere Volkswirtschaft.

DB: Wenn Güter auf der Schiene transportiert werden, braucht dies siebenmal weniger Energie als der Transport auf der Strasse.

Klimaschutz, Energieeffizienz, Platz, Versorgungssicherheit – das sind durchaus überzeugende Argumente für den Schienengüterverkehr.
DB: Was nicht heisst, dass wir absolut gegen die Strasse sind. Überhaupt nicht. Versorgungssicherheit ist immer auch ein Zusammenspiel der verschiedenen Verkehrsträger – mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen. Was unsere Kunden wollen, und was wir brauchen, sind Alternativen. Sonst fehlt uns eine Rückfallebene. Strasse, Schiene, aber auch Schiff; wenn eines ausfällt, gibt es noch andere. Ich glaube, man nimmt der Wirtschaft und den Kunden eine Alternative, wenn man den Schienengüterverkehr zu einem grossen Teil einstellt.

JP: Wenn die Politik Variante 2 beschliesst, also das Grundprinzip Eigenwirtschaftlichkeit beibehält, dann ist das irreversibel. Man behält keine Infrastruktur, wenn sie nicht genutzt wird. Heisst also, die vorhandenen Flächen müssten für andere Nutzungen teilweise freigegeben werden. In zehn Jahren können wir nicht plötzlich sagen, wir brauchen die Schiene auf diesen Flächen wieder. Die ist dann weg, und zwar für immer. Darum ist dieser Entscheid eben auch ein höchst strategischer, verbunden mit allen Konsequenzen für die Schweizer Volkswirtschaft und die Gesellschaft.

Welche Rolle spielen Automation und Digitalisierung für die Zukunft des Schienengüterverkehrs?
DB: Eine entscheidende. Es ist absolut notwendig, wettbewerbsfähig zu bleiben, nicht nur preislich, sondern auch bei der Flexibilität und der Geschwindigkeit. Und es ist wichtig für die Mitarbeitenden. Das Berufsbild, das wir heute anbieten, ist einfach nicht mehr zeitgemäss. Es bringt nichts, wenn wir den Wagenladungsverkehr fördern und unsere Mitarbeitenden gleichzeitig noch von Hand kuppeln. Zudem sind wir mitten in einer Pensionierungswelle und haben Mühe, Ersatz zu finden – der Kupplungsprozess muss künftig via digitale automatische Kupplung erfolgen. Ausserdem müssen wir den Kunden mehr Transparenz bieten. Zum Beispiel Livedaten zum aktuellen Stand des Transports. Die Unternehmen des Schienengüterverkehrs können die Umrüstung auf die neue Kupplung aber nicht aus eigener Kraft stemmen. Im System Schiene müssen alle innerhalb einer möglichst kurzen Frist umrüsten und der Nutzen der Automation entsteht erst, wenn fast alle umgerüstet haben. Selbst wenn unsere wirtschaftliche Lage besser wäre, würde die Branche das alleine nicht schaffen.

Sie erwähnen die digitale automatische Kupplung: Ist sie das Zünglein an der Waage?
DB: Im Kern ja. Den Zug zu digitalisieren ist sicherlich der schwierigste Teil. Aber ist das geschafft, dann wird vieles möglich: für die Kunden, die Effizienz, die Instandhaltung der Güterwagen.

Werden Digitalisierung und Automation auch Auswirkungen auf die Mitarbeitenden haben?
DB: Die Mitarbeitenden sehen, dass diese Innovationen etwas Gutes für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit bedeutet. Das Rangierpersonal leistet sehr schwere Arbeit. Und der lange Aufenthalt im Gleisbereich macht die Tätigkeit teils gefährlich. Mit der Digitalisierung und Automation machen wir einen riesigen Schritt, um den Beruf sicherer und gesundheitsschonender zu gestalten. Ausserdem entstehen attraktivere Berufsbilder. Denn nur wenn wir attraktive Arbeitsplätze anbieten können, finden wir Nachwuchs.

Cargo Magazin 1/23

Dieser Artikel stammt aus dem Cargo Magazin 1/23. Lesen Sie die vollständige Ausgabe hier. Sie möchten das Magazin in gedruckter Form erhalten? Für ein Abonnement klicken Sie bitte hier.

JP: Es ist wirklich selten der Fall, dass technologische Innovation und Digitalisierung so beliebt sind bei den Mitarbeitenden, wie in diesem Fall. Der Job ist brutal hart und teilweise gefährlich – wer mal für ein paar Minuten zugesehen hat, weiss das. Es ist in diesem Fall auch soziale Verantwortung, die wir übernehmen, wenn wir Digitalisierung und Automation vorantreiben.

Das neue Güterverkehrsgesetz tritt voraussichtlich 2025 in Kraft. Welche Ziele hat sich SBB Cargo bis dahin gesetzt?
DB: Wir wollen ganz klar eine gute Leistung auf den Schienen bringen. Hohe Zuverlässigkeit und ein sicherer Betrieb für die Kunden. Letztlich müssen auch die Kunden den Wagenladungsverkehr wollen, nicht nur die Politik. Daher müssen wir einfach jeden Tag aufs Neue beweisen, dass wir zuverlässig sind. Die wirtschaftliche Lage ist aktuell sehr unsicher. Auf der Schiene sind wir daher in unserer Flexibilität noch mehr gefordert als ohnehin schon. Die konjunkturellen Aussichten sind unsicher, die Auftragslage schwankt stark. Wir müssen einerseits schnell auf die Kundenbedürfnisse eingehen, andererseits auch schnell zurückfahren können, wenn kein Bedarf da ist. 2023 arbeiten wir also weiter an unserer Flexibilität.

Herr Pult, welches sind Ihre Ziele als Präsident der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen?
JP: Ich bin nur noch bis Ende 2023 Präsident. Ob ich den Durchbruch noch als Präsident der Kommission erlebe oder nicht, spielt aber keine Rolle. Ich werde alles dafür tun, dass sich eine möglichst optimierte Variante 1 durchsetzt. Dass wir im Güterverkehr auf der Schiene und vor allem im Wagenladungsverkehr optimale Rahmenbedingungen schaffen, um Versorgungssicherheit, Beiträge zur Energie- und Flächeneffizienz, Klimaschutz und gute Arbeitsbedingungen in der Logistikbranche zu gewährleisten. Damit der Schienengüterverkehr einen Beitrag zu einer prosperierenden Schweiz leistet.

Was passiert beim Wagenladungsverkehr (WLV)?
Dabei werden einzelne Wagen oder Wagengruppen aus Anschlussgleisen und Freiverladeanlagen gesammelt, zu Zügen formiert und in Rangierbahnhöfe gebracht. Hier werden sie je nach Bestimmungsort neu zusammengestellt. Am Bestimmungsbahnhof angekommen, werden die einzelnen Wagen oder Wagengruppen wieder aufgelöst und individuell verteilt. Vorteil dieser Vernetzung zwischen den wichtigsten Produktionsstätten, Logistikzentren und Lagern der Schweiz ist, dass gebündelte Lieferungen auch an abgelegene Orte möglich, und die Versorgungssicherheit der Schweiz gewährleistet ist. Ausserdem entfällt den Verladern eine aufwändige Lagerhaltung und die Logistikabläufe bleiben auch bei kleineren Gütern und Mengen flexibel.

Die Zukunft des Schienengüterverkehrs: der politische Prozess
Das Parlament hat den Bundesrat beauftragt, eine Auslegeordnung zur künftigen Ausrichtung des Güterverkehrs vorzulegen. Dabei gilt es, die energie- und klimapolitischen Ziele sowie die Bedeutung der Bahntransporte für die Versorgungssicherheit der Schweiz zu berücksichtigen. Ebenfalls im Fokus steht die Weiterentwicklung der Automatisierung und Digitalisierung. Der Bundesrat hat dazu zwei Varianten erarbeitet, deren Vernehmlassung Ende Februar endete. Aktuell erarbeitet die Bundesverwaltung die Botschaft, die der Bundesrat dann dem Parlament übergibt. Im Anschluss startet die parlamentarische Phase. Das neue Gesetz wird voraussichtlich 2025 in Kraft treten.

Die Gesprächspartner
Jon Pult (38) ist seit 2019 in der Verkehrskommission des Nationalrats und wird diese im Wahljahr 2023 präsidieren. Der gebürtige Bündner ist ausserdem seit 2014 Präsident der Alpen-Initiative. Eine Einstellung des Wagenladungsverkehrs ist für ihn irreversibel.
Désirée Baer (52) ist CEO von SBB Cargo. Zuvor war sie während drei Jahren Chefin von Securitrans und sieben Jahre Mitglied der Geschäftsleitung von SBB Infrastruktur. Sie ist diplomierte Betriebswirtschafterin HSG.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert