Die Zukunft hat Vergangenheit – so das Motto bei der Umstellung von der manuellen auf die automatische Kupplung. SBB Cargo hat bei den ersten Automationsschritten wichtige Erkenntnisse gewonnen – diese gilt es künftig bei der europaweiten Einführung der Automation im Rangierbetrieb zu nutzen. Über zentrale Erfolgsfaktoren, grosse Herausforderungen und die nächsten Schritte sprechen Isabelle Betschart, Leiterin Produktion und Jasmin Bigdon, Leiterin Asset Management bei SBB Cargo im gemeinsamen Interview.
SBB Cargo hat als erste Güterbahn in Europa die automatische Kupplung eingeführt. Wie kam es dazu?
Jasmin Bigdon: Wir alle – nicht nur das Management – haben früh verstanden, dass die Automation eine wichtige Voraussetzung für die Zukunft des Wagenladungsverkehrs ist. Deshalb haben wir bereits vor sieben Jahren angefangen, die Automation aufzugleisen. Mittlerweile haben das Projektteam und unsere Mitarbeitenden an den Standorten unserer Pilotprojekte wertvolle Erfahrungen gesammelt mit den Automationskomponenten und deren Einführung im laufenden Betrieb. Alle Beteiligten stehen mit Herz und Energie hinter dem Vorhaben.
Welche notwendigen technischen Voraussetzungen hat SBB Cargo geschaffen?
Jasmin Bigdon: Auch mit der Erarbeitung der technischen Grundlagen haben wir frühzeitig angefangen. Dazu gehört die Entwicklung des Demonstrator-Zugs im Jahr 2017, das Testen von einzelnen Komponenten, Klimakammertests und Kuppelversuche unter Realbedingungen. Zusätzlich haben wir parallel zum Wagen zusammen mit Voith eine Hybridkupplung für Lokomotiven entwickelt. In einem nächsten Schritt ging es dann an den Umbau der Fahrzeuge. Dabei haben wir wichtiges Wissen aufgebaut zu Krafteinleitung und Einbaustatik. So konnten wir die umgebauten Fahrzeuge schliesslich für den kommerziellen Betrieb zulassen. Am 6. Mai 2019 war es dann soweit: In dieser Nacht haben wir im laufenden Betrieb teilweise auf die automatische Kupplung umgestellt und unsere Züge fuhren erstmals automatisch gekuppelt – die spannendste Nacht in meinen nun nahezu 10 Jahren bei SBB Cargo.
Inzwischen sind rund 200 Wagen und 33 Loks mit der automatischen Kupplung ausgerüstet. Wie kommt diese bei den Mitarbeitenden an?
Isabelle Betschart: Ich habe sehr positive Rückmeldungen erhalten. Die Mitarbeitenden schätzen die Erleichterung: Die einfachere Arbeitsweise sowie tiefere physische Belastung. Und sie freuen sich auf diesen wichtigen Entwicklungsschritt und sind stolz, einen zentralen Beitrag an diese Pionierarbeit leisten zu dürfen. Die Motivation unserer Mitarbeitenden ist ein entscheidender Faktor dafür, dass wir die Umstellung gemeinsam erfolgreich bewältigen können.
An diesem Grossprojekt sind viele Mitarbeitende aus unterschiedlichen Bereichen beteiligt. Wie stellt ihr sicher, dass die interne Zusammenarbeit funktioniert?
Isabelle Betschart: Ein regelmässiger bereichsübergreifender Austausch vor allem mit den betroffenen Mitarbeitenden ist das A und O. So können wir die verschiedensten Ansprüche und die neuen betrieblichen Fragestellungen bündeln, gemeinsam besprechen sowie Lösungen finden und umsetzen. Dabei ist die grosse Anzahl an Beteiligten eine Chance: Es ist viel Wissen und Erfahrung vorhanden, worauf wir aufbauen können.
Jasmin Bigdon: Ja genau. Bereits zum Start des Programms Automation haben wir dieses bewusst interdisziplinär aufgestellt: mit einer Co-Leitung bestehend aus Produktion (betriebliche Umsetzung) und Asset Managements (technische Entwicklung und Umbau). Auch die IT und die Sicherheitsverantwortlichen sind ständige Mitglieder unseres Programmteams. Der Vertrieb ist natürlich auch eingebunden, wenn es dann um konkrete Kundenverkehre geht. So ist sichergestellt, dass wir im Gesamtbild agieren und auch wichtige Betriebsanliegen frühzeitig berücksichtigt werden.
Welches ist die wichtigste Erkenntnis für SBB Cargo aufgrund der bisherigen Automationsprojekte?
Isabelle Betschart: Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die automatische Kupplung wie auch die Bremsprobe technisch einwandfrei funktionieren. Gleichzeitig hat die Umstellung viele Auswirkungen auf den Betrieb und auf die Kunden. Sie bringt auch andere Anforderungen an die Infrastruktur sowie an die Arbeitsweise mit sich. Deshalb gilt es, den Betrieb bereichsübergreifend bis zum Kunden sorgfältig umzustellen. Und aufgrund des vorübergehenden Parallelbetriebs braucht es für die Mitarbeitenden gut vorbereitete Schulungen sowie Begleitungen vor Ort. Diese Massnahmen tragen dazu bei, dass Sicherheit und Qualität während der Umstellung gewährleistet bleiben.
Der Entscheid für einen europaweit einheitlichen Kupplungskopf ist im Herbst 2021 gefallen. Bald soll die automatische Kupplung europaweit eingeführt werden. Welches sind dabei die grössten Herausforderungen?
Jasmin Bigdon: Es muss eine Initiative der gesamten Branchen sein. Damit müssen alle Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen sowie Wagenhalter und Verbände einbezogen werden. Die Interaktion mit der europäischen Umstellungsplanung ist sehr wichtig. Schweizer Verlader nutzen teilweise Wagen europäischer Vermieter und fahren europaweite Verkehre.
Isabelle Betschart: Eine weitere Herausforderung ist die gigantische Anzahl an Wagen und Loks, die es umzurüsten gilt. Und die Umstellung muss während des normalen Betriebs erfolgen – daraus folgt ein ressourcenintensiver Parallelbetrieb. Deshalb ist ein Vorgehen in Etappen unabdingbar – in der Schweiz wie auch in ganz Europa.
Was sind die nächsten Schritte bezüglich der automatischen Kupplung bei SBB Cargo?
Jasmin Bigdon: Aktuell arbeiten wir an einer Einführungsplanung für die automatische Kupplung im Wagenladungsverkehr – primär im Expressnetz von SBB Cargo. Wir simulieren, in welchen Produktionswellen die Kundenverkehre umgestellt werden können und welche betrieblichen und infrastrukturellen Voraussetzungen notwendig sind. Dieses Wissen bringen wir in die Arbeitsgruppe des Bundesamts für Verkehr (BAV) ein. So unterstützen wir das BAV zusammen mit der Branche bei der Erstellung einer Vernehmlassungsvorlage zur politischen Befassung mit der Einführung und Finanzierung der automatischen Kupplung im Schweizer Binnenverkehr.
Was heisst das konkret für den täglichen Betrieb bei SBB Cargo?
Isabelle Betschart: Wir versuchen Antworten auf verschieden Fragestellungen zu finden. Die Umstellung betrifft den gesamten Betrieb von SBB Cargo sowie das Rollmaterial von Dritten aus dem In- und Ausland. Eine der zentralen Fragen dabei ist, wie wir den laufenden Betrieb in intelligente Umstellungsschritte unterteilen, sodass die Qualität für unsere Kunden erhalten bleibt. Ein grosses Plus: Dabei kommt uns unser Bahnwissen sowie unsere Umsetzungskompetenz zugute. Und wir können die Erfahrungen aus der bereits erfolgten Umstellung nutzen, ganz nach dem Motto: die Zukunft hat Vergangenheit.