Ende August 2020 übergibt die AlpTransit Gotthard AG den Ceneri-Basistunnel an die SBB. Wir fragen: Wie weit fortgeschritten sind die Bauarbeiten im Tessin, was gefällt am neuen Bauwerk und welches Zwischenfazit ziehen die Verantwortlichen?
Laut, dreckig, hektisch – so sollten Baustellen sein. Ein Wirrwarr aus Stimmen, Schmutz und ratternden Maschinen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zumindest in Camorino auf der Baustelle des Ceneri-Basistunnels im Tessin. Auffällig sauber und entspannt ist es hier. «Das war nicht immer so», versichert Bauingenieur Urs Rinderknecht. Per Funk meldet er die Besuchergruppe an und geht voran, hinein in den 15,4 Kilometer langen Tunnel, hinein in den Berg.
Nach dem Hauptdurchschlag im Januar 2016 erfolgte in den letzten drei Jahren der Abschluss des Rohbaus des Tunnels. Mittlerweile sind die Arbeiten durch die Bauherrin und SBB-Tochtergesellschaft, die AlpTransit Gotthard AG (ATG), weit fortgeschritten. Ende 2020 nimmt die SBB den Ceneri-Basistunnel in den offiziellen Fahrplan auf. Die Arbeiter auf der Baustelle sind zurzeit vor allem mit dem Einbau der Bahntechnikanlagen beschäftigt. In Kürze werden die Hauptarbeiten am Ceneri abgeschlossen sein, und die erste Testphase kann beginnen.
Eine Flachbahn durch die Alpen
Mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels findet die Neat ihren Abschluss. Nach der Inbetriebnahme der beiden Basistunnel am Lötschberg 2007 und am Gotthard 2016 ist der Ceneri das letzte Teilstück auf dem Weg zu einer schnelleren und leistungsfähigeren Verbindung durch die Alpen für den Schienenverkehr. Die Basis dafür legt die Schweiz in den 1990er-Jahren: 1994 nehmen die Stimmberechtigten die Alpeninitiative an und sprechen sich damit für eine Verlagerung des Schwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene aus. Vier Jahre später erteilen sie grünes Licht für den Bau der Neat. Kostenpunkt heute: 19,1 Milliarden Franken.
Die beiden Basistunnel am Gotthard und am Ceneri bilden zusammen eine Flachbahn durch die Alpen. Der höchste Punkt liegt auf gerade einmal 550 Metern über Meer. Die geringen Höhenunterschiede sollen es ermöglichen, dass in Zukunft schwerere und längere Güterzüge auf der Gotthardachse verkehren können als heute, und dies mit höheren Geschwindigkeiten. Ausserdem verkürzt die Flachbahn die Strecke Basel–Chiasso um rund vierzig Kilometer, was sich positiv auf die Reisezeiten im Personen- und Güterverkehr auswirken soll. In diesem Zusammenhang baut die Schweiz auf der gesamten Achse zusätzlich die Zufahrten aus, sodass Sattelauflieger mit bis zu vier Meter Eckhöhe durchgehend mit der Bahn transportiert werden können.
Ähnlich und anders
Noch ist das alles Zukunftsmusik, noch fahren keine Züge mit bis zu 250 Stundenkilometern durch den Ceneri-Basistunnel. Für die Besucher, die Urs Rinderknecht an diesem Morgen zu Fuss in den Berg folgen, fühlt es sich dennoch seltsam an. Wie oft hat man schon die Chance, einen Eisenbahntunnel auf diese Weise zu erkunden? Immer wieder hält der Bauingenieur an, um auf die Besonderheiten des Ceneris hinzuweisen, etwa auf die Deckenstromschienen. Diese haben wesentliche Vorteile gegenüber einer gewöhnlichen Fahrleitung mit Kettenwerk, wie sie im Gotthard-Basistunnel zum Einsatz kommt. «Deckenstromschienen haben eine längere Lebensdauer, sind brandbeständiger und in ihrer Konstruktion kompakter als andere Systeme», erklärt Rinderknecht.
Der Vergleich mit dem «grossen Bruder», dem Gotthard, liegt nahe, obwohl die beiden Tunnel in ihren Dimensionen sehr unterschiedlich sind. Gemein ist den Bauten, dass sie zwei Einspurröhren und eine schotterlose, feste Fahrbahn aufweisen. Zudem wurden im Ceneri wenn immer möglich die gleichen Komponenten für den Rohbau – Türen, Lüftungsanlagen und die Doppelböden in den 48 Querschlägen – verwendet wie im Gotthard. Das soll die Ersatzteilhaltung und die Zulassungsprozesse erleichtern. Auf die Unterschiede angesprochen, denkt Urs Rinderknecht an die Arbeitsbedingungen im Berginnern: «Im Ceneri waren die Bedingungen viel einfacher als im Gotthard.» Die Geologie zum Beispiel habe die zuständigen Unternehmen hier vor keine allzu grossen Probleme gestellt.
«Ausrutscher» liegen nicht drin
Kleiner, einfacher, weniger spektakulär: Fristet der Ceneri-Basistunnel gegenüber dem Gotthard ein Schattendasein? Dieter Schwank, CEO der AlpTransit Gotthard AG, winkt ab: «Klar hat der Ceneri eine andere Ausstrahlung als der Gotthard, aber er ist die Vollendung der Neat und damit ein sehr wichtiger Teil der Gotthardachse.» Zufrieden ist Schwank mit dem aktuellen Baufortschritt und der Tatsache, dass die ATG den Ceneri – Stand Anfang 2019 – wie geplant Ende August 2020 der SBB übergeben kann. Den Testbetrieb im Frühjahr 2020 führt die ATG noch selbst durch, für den anschliessenden Probebetrieb ist die SBB als künftige Betreiberin verantwortlich. Ebenfalls gut sieht es in Bezug auf das Budget aus: Der Gesamtkredit in Höhe von 2,7 Milliarden Franken sollte ausreichen. «Wir wissen aber, dass es weiterhin höchste Konzentration von allen verantwortlichen Unternehmen braucht und wir uns keine Ausrutscher leisten können», betont Schwank. «Im Moment bin ich vorsichtig optimistisch, dass alles gut kommt, aber abgerechnet wird bekanntlich erst am Schluss.»
Konzentration ist ein gutes Stichwort. Die Arbeiter, die im ersten Querschlag des Ceneri-Basistunnels versuchen, eine fünf Tonnen schwere Trafostation im Schaltraum zu positionieren, sind konzentriert am Werk. Alle wirken fokussiert, als die Besuchergruppe um Urs Rinderknecht ihnen über die Schultern schaut. Klar eigentlich, dass just in diesem Moment etwas schiefgeht: Die Trafostation, welche die Arbeiter in den Schaltraum schieben, rutscht seitlich etwas vom Wagen ab und bleibt im Eingang stecken. Nichts geht mehr. «Freude herrscht», kommentiert ein junger Mann und rollt mit den Augen. Lange währt das «Chaos» nicht. Die Arbeiter wissen, was zu tun ist. Nur Augenblicke später steht die Trafostation an der richtigen Stelle.
Der beste Abschluss
Dass die Vollendung des Ceneri-Basistunnels naht, spürt auch Dieter Schwank. Vor allem im Kanton Tessin, der im Personenverkehr stark von der neuen Verbindung profitieren wird – die beiden Zentren Lugano und Locarno rücken in Pendlerdistanz – sei das Interesse der Öffentlichkeit gross. Der CEO der ATG fiebert dem Moment der Übergabe an die SBB ebenfalls entgegen: «Das Projekt ist unsere Leidenschaft, und ich freue mich, dass wir es zu Ende führen dürfen.» Müsste Schwank heute ein Fazit ziehen, würde er einerseits die gute Konzeption und Planung loben, die dem Projekt zugrunde liegen. Anderseits könne die ATG auf eine «langjährige, tolle, wichtige und fruchtbare» Zusammenarbeit mit der SBB zurückblicken. «Wie der Gotthard wird auch der Ceneri ein Werk sein, auf das wir alle stolz sein dürfen», ist der CEO überzeugt.
Mit der Inbetriebnahme des Ceneri geht die Zeit der AlpTransit Gotthard AG allmählich zu Ende: Das Unternehmen ist noch bis 2022 mit administrativen Arbeiten beschäftigt, danach wird es aufgelöst. Für Bauingenieur Urs Rinderknecht ist bereits früher Schluss. Während er nach zwei Stunden im Berg zusammen mit den Besuchern wieder ans Tageslicht tritt, erzählt er, dass der Ceneri-Basistunnel sein letztes bedeutsames Bauprojekt ist: «Wenn der Ceneri in Betrieb geht, gehe ich in Pension.» Er lächelt. «Das ist doch schön, dass es gerade so aufgeht.»