Eine der legendärsten Bahnstrecken der Welt soll noch dieses Jahr in Pension gehen: die Gotthard Überfahrt. Lokführer Hansruedi Schumacher wird erst nächstes Jahr pensioniert und steht nun vor der grössten Veränderung seines Beruflebens.
Herr Schumacher, seit 36 Jahren fahren Sie mehrmals pro Woche die alte Gotthard Bergstrecke. Haben Sie es nicht langsam satt, das legendäre „Chileli vo Wasse“zu zählen?
Nein, denn ich habe die Kirche noch nie gezählt. Bei diesem kurvenreichen Streckenabschnitt gibt es für mich weit Wichtigeres zu tun! Ich profitiere von der Kurve, um den hinteren Teil des Güterzuges zu sehen.
Weshalb?
Um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Vielleicht hat sich eine Blache gelöst oder eine Bremse ist kaputt. Das würde ich dann beim nächsten Bahnhof melden.
Trotzdem: ist die Strecke selbst für Sie noch spannend?
Absolut. Denn jedes mal entdecke ich etwas Neues. Der spannendste Teil ist die Auffahrt auf der Südseite, zwischen Bodio und Airolo. Da bin ich mitten in der Natur und es kann immer zu einem Bergrutsch oder Steinschlag kommen, da muss mit allem gerechnet werden. Die Unvorhersehbarkeit der Strecke macht sie spannend.
Wann fährt sich die Strecke am schönsten?
Am frühen Morgen, wenn die Sonne erscheint. Die Bergspitzen leuchten dann Rosarot und als Lokführer habe ich diese wunderschöne Welt ganz für mich alleine. Ein Privileg, welches mir enorm viel Kraft schenkt. Oder in gewissen Winternächten, wenn es Neuschnee gab und der Mond ganz voll ist. Ich fahre durch diese stille, aussergewöhnliche Welt und fühle mich wie in einem Märchen.
In der Nacht über den Gotthard – fahren Sie deshalb nur Güterzüge?
Leider nicht. Bis zum Jahr 2000 fuhr ich auch andere Züge. Doch dann spezialisierten die SBB ihre Lokführer auf einzelne Zugarten. Das passte mir nicht, denn ich mochte die Abwechslung. Für manche Kollegen war es eine Befreiung, keine Güterzüge mehr zu fahren. Da muss man immer Platz machen, denn Schnellzüge und Personenzüge haben immer Vorrang. So gehören Verspätungen und Nachtschichten bei Cargo-Lokführern zum Alltag. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich weder beim Essen noch beim Schlafen dadurch Probleme hätte. Auch dank meiner Frau Anita, die immer mit viel Liebe unsere zwei kleinen Buben zu beschäftigen wusste, so dass sie den schlafenden Papi nicht störten. Doch meinen Beruf auf einer so wunderbaren Strecke auszuüben, macht alle Strapazen wett.
Haben Sie als Kind schon mit einer Märklin geübt?
Nein, so eine besass ich nie. Ich bin im Tessin aufgewachsen und alle meine Verwandten lebten in der Deutschschweiz. So nahmen wir jedes Mal den Zug, wenn wir sie besuchten. Und wenn ich in Bellinzona beim Bahnhof wartete, und sah, wie diese Kolosse einfuhren, imponierte mir das ziemlich. Eine solche Maschine selbst zu fahren, traute ich mir damals gar nicht zu.
Ist es immer noch aufregend für Sie, durch all diese Tunnel und über all diese Brücken zu fahren?
Aufgeregt bin ich nie, denn ich muss stets konzentriert und locker bleiben. Aber ich bin auch heute noch beeindruckt, was diese Pioniere vor 140 Jahren geleistet haben. Im Prinzip fahren wir noch auf derselben Strecke. Eine Riesentat…
…von der Sie schon bald – bei Güterzügen bereits ab September – Abschied nehmen müssen. Freuen Sie sich auf den neuen Basistunnel?
Soll ich mit Herz oder Verstand antworten?
Zuerst mit dem Herzen.
Klar ist, dass die ganze Nostalgie nicht mehr zum Zug kommt. Ausserdem stelle ich mir 57 km in einem schwarzen Loch nicht sonderlich spannend vor. Gegenverkehr gibt es nicht und alle Signale sind auf Bildschirme verbannt. Wahrscheinlich hätte ich darauf verzichten können. Aber ich bin ein neugieriger Mensch und sagte mir: Jetzt bist du 36 Jahre oben durch, dann kannst du jetzt auch ein paar Monate unten durch!
Und was sagt der Verstand?
Der neue Basistunnel ist natürlich ein grosser Fortschritt für die Bahnwelt. Allein der Standort Bellinzona wird mit dreissig neuen Lokführern aufgestockt. Es scheint nun realistisch, dass Güter vermehrt über den Bahnverkehr transportiert werden. Doch das Ausland muss mitspielen. Das ewige Problem bleibt, dass die Strasse billiger ist als die Bahn. Und da sollte meiner Meinung nach der Bund mehr beisteuern.
Was wird beim neuen Tunnel besser sein?
Es können wesentlich mehr Güter in weniger Zeit transportiert werden, 2000 Tonnen pro Zug, um genau zu sein. Bei der Gebirgsstrecke können höchstens 1400 Tonnen, mit zusätzlicher Schiebelock 1700 Tonnen, transportiert werden. Mehr halten die Zughaken bei dieser Steigung nicht aus.
Was, wenn mal ein Zug zerreisst?
Mir ist das noch nie passiert. Wer die Gotthard-Strecke befahren will muss deshalb eine Weiterbildung absolvieren, insbesondere um die speziellen Bremsmanöver zu erlernen. Wenn ein Zug zerreisst, würde ich zuerst sehen, ob ich selbst etwas reparieren könnte oder ob der Haken komplett kaputt ist. Dann müsste die Betriebswehr kommen, um den Schaden zu reparieren. Das wäre das dümmste, was passieren könnte, denn die ganze Strecke wäre blockiert.
Haben Sie die Strecke auch mal blockiert?
Ja, aber das war nicht mein Fehler. Einmal fielen in einem Tunnel die Drähte runter. Ich musste drei Stunden in kompletter Dunkelheit ausharren, bis der Schaden geflickt wurde. Der ganze Zug wurden dann rückwärts aus dem Tunnel gezogen. Eine ziemliche Bewährungsprobe.
Kam es nie zu härteren, menschlichen Bewährungsproben?
Ich darf mich glücklich schätzen, noch nie einen Selbstmörder erlebt zu haben. Dafür mussten ein paar Hirsche das Zeitliche segnen. Wenn ich einen erblicke, versuche ich den Zug zu bremsen, möglichst viele Geräusche zu machen, drehe die Lichter ab, damit das Tier nicht geblendet wird, aber manchmal ist ein Zusammenprall einfach nicht zu vermeiden. Dann schau ich weg.
Quelle: Naturfreund 2/2016
Interview & Fotos: Emanuel Hänsenberger