Instandhaltungsarbeiten für Drittkunden sind ein zunehmend wichtiges Geschäftsfeld für SBB Cargo, besonders auf der Nord-Süd-Achse. Um den Standort Chiasso zu stärken, werden die dortigen Werkstätten saniert und umgebaut. Das Ziel: den Umsatz mit Drittkunden mittelfristig deutlich erhöhen.
Was für uns der Besuch beim Coiffeur oder Zahnarzt ist, ist für Güterzüge der Halt in der Instandhaltungswerkstatt. Regelmässig lassen sie hier ihre Räder und Bremsen kontrollieren, defekte Achsen auswechseln, versprayte Türen übermalen und das Sicherungssystem prüfen. Lokomotiven erhalten durchschnittlich alle zwei Monate eine Auffrischung, Güterwagen typenabhängig entweder nach einem Jahr oder nach rund 20 000 zurückgelegten Kilometern. Diese leichten, betriebsnahen Instandhaltungsarbeiten, wie sie SBB Cargo in Chiasso und an drei weiteren Standorten in der Schweiz ausführt, dauern normalerweise zwei bis drei Tage. Für die umfangreicheren Revisionsarbeiten in Bellinzona und Biel werden Loks und Wagen meist über einen Monat aus dem Verkehr gezogen.
Ein «One-Stop-Shop» für Bahnen
Am Standort Chiasso kümmert sich das 25-köpfige Team nicht nur um Güterzüge von SBB Cargo, sondern auch um jene von Drittkunden. Weil die Nachfrage nach Instandhaltungsarbeiten an diesem wichtigen Knotenpunkt auf der Transitachse stetig zunimmt, möchte SBB Cargo den Umsatz in den kommenden Jahren deutlich steigern. Dafür lässt die Bahn die fast 100-jährige, unter Denkmalschutz stehende Lok-Werkhalle zurzeit sanieren. Bis Juni 2020 werden das Dach und die elektrischen Installationen erneuert. Die restliche Bausubstanz wird lediglich sanft renoviert.
In einem zweiten Schritt will SBB Cargo bis Mitte 2021 das Gebäude der Wageninstandhaltung neu bauen und mit einer Unterflurdrehbank zur Reprofilierung von Radsätzen ausstatten. Da während dieser Bauphase mit grösseren Einschränkungen bei der Instandhaltung zu rechnen ist, prüfen die Verantwortlichen Ersatzkonzepte. Voraussichtlich wird eine provisorische Zelthalle im Gleisfeld vor der bestehenden Halle errichtet, um das Team unterzubringen. Die Sanierung und der Neubau beider Hallen kosten insgesamt zehn Millionen Franken, wovon SBB Immobilien die Hälfte übernimmt.
Tizian Faddi, stellvertretender Leiter der vier Instandhaltungsteams in Chiasso, Brig, Muttenz und Dietikon, ist überzeugt, dass sich die Investitionen in den Standort Chiasso lohnen: «Im Gespräch mit unseren Kunden hat sich herausgestellt, dass wir vor allem mit der neuen Unterflurdrehbank eine Marktlücke im Tessin und in Norditalien besetzen können.» Schweizweit betreibt die SBB bislang drei solcher Anlagen: in Zürich, Basel und Genf. Kunden, die im Tessin unterwegs sind, haben folglich das Nachsehen und müssen ihre Loks und Wagen unter Umständen an zwei Orten warten lassen – das kostet Zeit und Geld. «Mit der Unterflurdrehbank und unserem bereits vorhandenen Know-how im Bereich Zugsicherungssysteme können wir den Kunden hier in Chiasso künftig einen ‹One-Stop-Shop› anbieten», sagt Faddi. Ausserdem blieben dadurch wichtige Arbeitsplätze in der Region erhalten beziehungsweise würden neu geschaffen.
Chiasso verbindet zwei Welten
Von einer «Riesenchance» spricht auch Marco Gozzoli, Teamleiter der Lokomotivwerkstatt in Chiasso. Sein Team arbeitet momentan in einem Zwei-Schicht-Betrieb von 6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends, damit es trotz Hallensanierung zu keinen Einschränkungen in der Instandhaltung kommt. «Das ist eine Herausforderung», betont Gozzoli, «vor allem für jene Mitarbeiter, die einen langen Arbeitsweg haben.» Zudem sind die Platzverhältnisse viel knapper als während des Normalbetriebs, weil nur eine Seite der Halle für Reparaturen und Sicherheitstests zur Verfügung steht. Die andere Seite wird parallel saniert und modernisiert.
Das Team unterhält durchschnittlich 25 Loks und 60 bis 70 Güterwagen pro Woche. Aufgrund der Nähe zu Italien sind die Mitarbeiter – Frauen gibt es im Team von Marco Gozzoli bislang keine – mit schweizerischen und italienischen Güterzügen und Sicherheitssystemen bestens vertraut. Bei der Ausgangskontrolle der Lokomotiven müssen sie beispielsweise testen, ob diese sowohl für die 3-Kilovolt-Fahrleitung in Italien als auch für die 15-Kilovolt-Fahrleitung in der Schweiz funktionieren. Ausserdem sind sämtliche Mitarbeiter so ausgebildet, dass sie mit beiden Loksystemen fahren können. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Teamleiter Gozzoli jedenfalls ist stolz auf diese Expertise in Chiasso: «Wir sind eine internationale Werkstatt, die zwei Welten miteinander verbindet.» Nach der Sanierung und dem Umbau sind es womöglich gar drei Welten, die hier zusammenkommen: Die Instandhaltung Chiasso möchte sich in Zukunft nämlich verstärkt auch auf deutsche Kunden spezialisieren, die auf der Nord-Süd-Achse verkehren.
Fotos: Claudio Bader