Die Serviceanlage Muttenz ist seit diesem Jahr die zentrale Anlaufstelle für Wartungsarbeiten an Güterwagen bei SBB Cargo und SBB Infrastruktur. Anhand streng zertifizierter Richtlinien kümmert sich die Wagenklinik um Notfälle, geplante Revisionen, präventiven Unterhalt und Umbauprojekte für die Zukunft.
Statt weissem Kittel, Stethoskop und Skalpell tragen sie orange Sicherheitswesten, Schweissbrillen und Calipri-Messgeräte – die Instandhaltenden in der Serviceanlage (SA) Muttenz. Mit chirurgischer Präzision zerlegen sie defekte Güterwagen in ihre Bestandteile, reparieren sie und setzen sie wieder zusammen. Jeder Handgriff wird dokumentiert und folgt einem strengen Regelwerk – ähnlich wie in einem Spital. «Die Instandhaltung von Schienenfahrzeugen unterliegt sehr strengen Vorschriften», sagt Martin Schwendimann. Der 40-Jährige ist der Leiter des Kompetenzzentrums Güterwagen in Muttenz – sozusagen der Spitaldirektor. Als «Chefarzt» steht ihm der Produktionsleiter Euplio Nuzzo (51) zur Seite.
Eine Liga aufgestiegen
Seit Kurzem haben die beiden eine neue Verantwortung: Die rund 70 Mitarbeitenden in Muttenz kümmern sich neu um die schwere Instandhaltung der 4671 Güterwagen von SBB Cargo und bald auch um 1973 Wagen der Division SBB Infrastruktur. «Wir sind stolz darauf, dass wir uns gegen den Wettbewerb durchsetzen konnten», sagt Euplio Nuzzo. «Gleichzeitig war es aber auch die grösste Herausforderung für die SA Muttenz seit Jahrzehnten» Die Vorbereitungszeit war knapp – in weniger als elf Monaten stellten die Beteiligten das Ausbauprojekt auf die Beine. «Jetzt sind wir bereit, in einer anderen Liga mitzuspielen», sagt Martin Schwendimann. «Dank unserem sehr breiten Kompetenzfeld können wir alle erdenklichen Unterhaltsarbeiten ausführen»
Fünf Wagen pro Woche
Am häufigsten liegen die vierachsigen Güterwagen von SBB Cargo auf dem OP-Tisch. Alle sechs Jahre unterliegen die Wagen einer Revision. Bei dieser schweren Instandhaltungsstufe trennen die Mitarbeitenden zunächst die Drehgestelle vom Aufbau und zerlegen dann die Drehgestelle komplett. Anschliessend prüfen sie die Einzelteile gemäss der Checkliste der jeweiligen Instandhaltsungsvorgabe auf Herz und Nieren. Bevor die Mitarbeitenden den Wagen wieder zusammensetzen, reinigen sie alle Teile gründlich und ersetzen defekte Komponenten. Für die Revisionsfrist haben sie pro Wagen ca. 24 Stunden zur Verfügung. Die zusätzlichen Schäden, die repariert werden müssen, kommen dann noch dazu. Pro Woche kann Martin Schwendimann so vier bis fünf Wagen frisch revidiert aus der «Klinik» entlassen. Zum Schluss erhalten die genesenen Patienten einen neuen Aufdruck mit dem Datum der Revision.
Der Ausbau war die grösste Herausforderung für die SA Muttenz seit Jahrzehnten
Euplio Nuzzo, Produktionsleiter
Standort Muttenz weiter stärken
Neben den kurativen und präventiven Unterhaltsarbeiten, bei denen der normale Verschleiss behoben wird, kümmert sich die SA Muttenz auch um Unfallwagen und um Defekte, die unterwegs auftreten. «Wenn ein Güterwagen auf der Strecke bleibt, rücken wir mit unserer mobilen Equipe aus und reparieren vor Ort», sagt Produktionsleiter Euplio Nuzzo. Diese «Ambulanz» ist flächendeckend in der ganzen Schweiz im Einsatz. Vor Ort in der Serviceanlage kümmern sich die Instandhaltenden ausserdem um Spezialprojekte wie die Umrüstung auf die Digitale Automatische Kupplung.
Während des Ausbaus der Serviceanlage in Muttenz wurde ein Teil der leichten Instandhaltung in die Werkstatt am Rangierbahnhof im Limmattal ausgelagert, wo auch die Güterloks revidiert werden. Am bisherigen Standort in Bellinzona stellt die SBB im Herbst 2022 die schwere Instandhaltung an Güterwagen nach 130 Jahren ein, um Kapazitäten für die Wartung der Astoro-Flotte im Personenverkehr zu schaffen. Am Standort Muttenz stehen in den nächsten Jahren bauliche Erweiterungen der Werkstatthalle an. «So können wir unser Produktionskonzept weiter optimieren und noch enger mit der Materiallogistik zusammenwachsen», sagt Euplio Nuzzo. «Es wird uns bestimmt nicht langweilig.»
Zertifizierungen SA Muttenz
Nach einer intensiven Vorbereitungszeit absolvierten die Mitarbeitenden in Muttenz Ende April 2022 das VPI Audit für die schwere Instandhaltung (Stufe G40) erfolgreich. Die Zertifizierung durch den Verband der privaten Güterwagenhalter in Deutschland (VPI) verschafft der SA Muttenz einen wichtigen Wettbewerbsvorteil. Über 500 Unter nehmen aus mehr als 20 Ländern nutzen mittlerweile den modular aufgebauten VPI European Maintenance Guide (VPI EMG). Die SA Muttenz ist nach den Standards G40 und G42 sowie für Bremsrevisionen BR2 zertifiziert. Darüber hinaus erfüllt sie die technischen Spezifikationen für die Interoperabilität (TSI), die Instand haltungsstufe R3 nach SBB Regelwerk sowie die ISO Normen 9001 und 14001.
Leichte und schwere Instandhaltung
Die leichte Instandhaltung umfasst Wartungen, kleinere Reparaturen sowie die Reinigung der Fahrzeuge. Bei der schweren Instandhaltung wird das Fahr zeug komplett in seine Bestandteile zerlegt und es werden beispielsweise die Drehgestelle ausgetauscht.
Welche Aufgabe hat das Kompetenzzentrum Instandhaltung in Muttenz?
Vom Ersatz von Verschleissteilen bis hin zur kompletten Revision führen wir alle Instandhaltungsarbeiten an Güterwagen durch. So erhalten unsere Kunden sämtliche Leistungen aus einer Hand.
Wer sind Ihre Kunden?
Im Juli 2022 haben wir sämtliche Instandhaltungsarbeiten für die Güterwagen von SBB Cargo und SBB Infrastruktur übernommen. Wir sind auch bereit für Aufträge von Drittkunden wie Hupac, VTG oder TWA Transwaggon.
Welche Vorteile bringt der Ausbau des Standorts Muttenz?
Das erweiterte Produkteportfolio ist noch attraktiver für Drittkunden, die künftig alle Instandhaltungsleistungen für Güterwagen aus einer Hand beziehen möchten. Gleichzeitig steigert der erhöhte Anteil planbarer Revisionsarbeiten die Produktivität in der Instandhaltung bei SBB Cargo. Zudem nimmt das Arbeitsvolumen in Muttenz zu; das schafft zusätzliche Arbeitsplätze vor Ort.
Wie gewährleisten Sie eine möglichst hohe Verfügbarkeit der Güterwagen?
Da wir aktuell nur über vier sehr lange Gleise verfügen, die Arbeiten jedoch sehr unterschiedlich sind (auch im Hinblick auf die Ausführungszeiten), feilen wir bereits seit mehreren Jahren immer wieder an unserem Produktionskonzept. Mit der Übernahme der schweren Instandhaltung wurde und wird dieses auch weiterhin stetig angepasst. Im Grundsatz durchlaufen die Wagen definierte Bereiche für die einzelnen Arbeitsschritte. Durch unser Produktionskonzept können wir besser priorisieren und so höchste Effizienz gewährleisten.