Am 11. Dezember geht der Gotthard-Basistunnel definitiv in Betrieb. Wir konnten einen Lokführer an Bord eines kommerziellen Güterzugs mit 35 Güterwagen durch den neuen Tunnel begleiten.
Ein sonniger Tag im Tessin. Wir stehen zwischen den Gleisen am Güterbahnhof San Paolo in Bellinzona. Schon fährt er ein, der endlose Zug aus Cadenazzo. Luca Orsega, Lokführer bei SBB Cargo International, begrüsst uns mit Handschlag. Es steht Aufregendes auf dem Programm: die Fahrt durch den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel im Güterzug.
Kein weiterer Test soll es sein, sondern eine richtige Fahrt in einem kommerziellen Zug, der sonst über die Bergstrecke von Süd nach Nord verkehren müsste. Er besteht aus offenen Wagen, gedeckten Wagen und Tragwagen – ein bunter Zug im Wagenladungsverkehr. Ziel ist der Rangierbahnhof Limmattal, wo die Wagen neu formiert und weiterverfrachtet werden. Orsega macht ein kurzes Manöver und hängt ein paar weitere Wagen an. Sage und schreibe 601 Meter lang ist der Tross! Damit kommt ein entscheidender Vorteil des Bauwerks voll zum Tragen: Durch den neuen Tunnel können bis zu 750 Meter lange Züge fahren. Über die Bergstrecke ist bei 580 Metern Schluss.
Im Führerstand der Re 620 greift Orsega zum Telefon und meldet dem Dienstleiter in der Betriebszentrale Pollegio Fahrbereitschaft. Er spricht Tessiner Dialekt. Es dauert nur Augenblicke, und schon wird das Signal auf Grün gestellt. Um 13.44 Uhr setzt sich die Maschine mit den 35 Wagen ruckelnd in Bewegung.
Die feierliche Eröffnung am Gotthard von Anfang Juni ist längst vorbei, über 100 000 Personen nahmen daran teil. Das Foto mit den Ehrengästen, die im Personenzug durch den Gotthard fahren, ging um die Welt. Aber wie fühlt sich die Durchfahrt im Güterzug an? Schliesslich wurde der neue Tunnel vor allem für den Cargo-Verkehr gebaut.
«Nervoso?» Orsega schüttelt den Kopf und lacht. Er ist schon fünfmal durch die neue Röhre geflitzt, Probleme hatte er noch nie. Wir fahren an einem Rebberg vorbei, die Trauben hängen schwer an den Zweigen. Bei Biasca, an den mächtigen Flanken des Rheinwaldhorns, kommen wir auf die Neubaustrecke. Es gibt nun keine Aussensignale mehr, Orsega verlässt sich auf den kleinen Monitor, auf dem ihm die Signale angezeigt werden (Verkehrsleitsystem ETCS Level 2).
Um 14.05 Uhr nähern wir uns dem schlanken Betonportal, dann wird es dunkel. Neben der Fahrspur blitzen im Scheinwerferlicht die Distanztafeln und die Signale für den Notausgang auf – das ist alles. Orsega dreht am Stufenschalter, beschleunigt seine Lok, bis sie gut 100 Stundenkilometer erreicht. «Es ist ein ruhiges, aber konzentriertes Fahren», sagt der dreifache Vater, der mit seiner Familie in Giornico wohnt.
Cargo Magazin 3/16
Frischere Früchte und Gemüse
Ganz zuvorderst führen wir einen Sattelanhänger mit Tessiner Früchten und Gemüsen mit. Es handelt sich um einen Transport der Firma Zingg in Hedingen. Franz Gräzer, zuständig für den kombinierten Verkehr, freut sich über den künftigen Zeitgewinn. «Dank des Gotthard-Basistunnels bringen wir unsere Ware 30 bis 45 Minuten schneller ans Ziel», sagt er später am Telefon. Die Ware wird in Dietikon umgeschlagen und dann auf der letzten Meile mit dem Lastwagen ausgeliefert.
Nach 40 Minuten, die flackernden Lichter der Nothaltestellen von Faido und Sedrun sind vorüber, erscheint ein Dämmerlicht am Horizont, das rasch heller wird. Auch Erstfeld im Urnerland ist heute eine Sonnenstube. Wie verändert das neue Bauwerk die tägliche Arbeit? «Es gibt zwei Gefühle», sagt Orsega mit einem Lachen. Einerseits liebt er die Berge, er hat selber ein kleines Ferienhaus in den Tessiner Alpen, deshalb ist er etwas wehmütig, dass er keine Züge mehr über die Bergstrecke mit ihren Kehrtunneln fahren wird.
Andererseits freut er sich über den neuen Trumpf für die Bahn. Es können nicht nur längere Züge durch den Basis-tunnel fahren, für Züge bis 1600 Tonnen entfällt auch das Vorspannen einer zweiten Lok. Der Tunnel erlaubt es, die Kapazität im Nord-Süd-Verkehr stark zu steigern. Der umweltschonende Transport ist Orsega ein grosses Anliegen. Schliesslich kam der gelernte Automechaniker genau deshalb zur Bahn. Zudem schätzt er die grössere Sicherheit im neuen Tunnel: «Du musst nicht damit rechnen, dass auf einmal ein Hindernis wie ein Stein oder ein Tier auf der Strecke ist.»
Nach gut zwei Stunden fahren wir im Bahnhof Arth-Goldau ein. Orsega stoppt kurz vor der Rigibahn, einem Meisterwerk der Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts. Kollege Christoph Roth wartet schon auf dem Perron, er wird den Zug bis ins Limmattal weiterfahren. Der 11. Dezember kann kommen: Das Personal und der Tunnel sind bereit für die Inbetriebnahme des Meisterwerks des 21. Jahrhunderts.