Hier der Wunsch der Agrargenossenschaft fenaco nach flexiblen, kurzfristigen Transportmöglichkeiten während der Getreideernte. Dort die Herausforderung für SBB Cargo, ländliche Bedienpunkte rentabel zu betreiben. Die Lösung? Ein ausgeklügeltes, dynamisches Agrarkonzept mit gebündelten Verkehren.
Sommerzeit gleich Ferienzeit? Nicht auf hiesigen Getreidefeldern. Dort herrscht Hochbetrieb, es ist Erntezeit. Jeweils von etwa Mitte Juni bis Anfang August holen die Landwirtinnen und Landwirte die angebaute Weizen-, Gersten- und Rapsernte ein und liefern sie zur Kontrolle, Lagerung und Aufbereitung an regionale Sammelstellen. Koordiniert wird der Weitertransport von den Getreidesammelstellen zu den Endkunden in vielen Fällen durch fenaco. Als Vermarktungspartnerin der Landwirtschaft bringt die Agrargenossenschaft einheimische Rohstoffe wie Getreide sowie Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Fleischprodukte zu den Konsumentinnen und Konsumenten. Dabei setzt fenaco seit je auch auf die Bahn – insbesondere die Geschäftseinheit «Getreide, Ölsaaten, Futtermittel» (GOF).
Stressfrei dank neuem Konzept
«In der Geschäftseinheit GOF haben wir planbares, nicht schnell verderbliches Gut. Deshalb eignet sich der Bahntransport bestens», erklärt Barbara Springer, Leiterin Ressort Strategische Entwicklung bei fenaco GOF. Wir treffen sie und ihre Kollegin Sarah Rust vor dem Silo der LANDI im bernischen Huttwil. Hier findet an diesem Nachmittag der letzte Abtransport der hiesigen Getreideernte 2019 statt. Es ist Mitte Mai 2020. Die stressigste Zeit des Jahres steht den beiden fenaco-Vertreterinnen noch bevor: die Erntezeit im Sommer. Dann muss fenaco nicht nur einen reibungslosen schweizweiten Abtransport der Produkte von den Sammelstellen sicherstellen, sondern auch die Koordination zwischen den regionalen Disponenten und Sammelstellen, den eigenen Kunden sowie den Verantwortlichen von SBB Cargo übernehmen. Sarah Rust spricht von einer «Planung über mehrere Stufen hinweg», die sie und das Team jeweils stark fordere. Gleichzeitig betont die Leiterin des Ressorts Mahlgetreide und Ölsaaten: «Ich schaue der diesjährigen Ernte gelassen entgegen.»
Ein Grund für die Gelassenheit ist das neue Agrarkonzept, das fenaco und SBB Cargo gemeinsam erarbeitet und Anfang 2020 definitiv implementiert haben. Es basiert auf dem 2018 abgeschlossenen Pilotprojekt «lev», dessen Ziel es war, die Transporte von SBB Cargo am Beispiel von Getreidetransporten so einfach wie möglich zu halten («lev» ist rätoromanisch für «einfach»). Nach einer erfolgreichen Testphase im vergangenen Jahr werden die Getreidetransporte von fenaco nun in dynamischen und flexiblen Verkehren abgewickelt. Und da die Erfahrungen aus dem Sommer 2019 gezeigt haben, dass die Transporte auch während der Erntezeit funktionieren, sind an diesem Nachmittag nicht nur Barbara Springer und Sarah Rust zuversichtlich, sondern auch Mathias Lehmann und Stefan Adamus, die beiden Verantwortlichen von SBB Cargo. Die Stimmung ist gut, geradezu locker, man kennt und versteht sich bestens im Projektteam.
Clever kombinierte Verkehre
Das Agrarkonzept zeichnet sich durch Einfachheit und hohe Flexibilität aus. Die Absprache mit fenaco, die Planung und der Transport seitens SBB Cargo erfolgen aus einer Hand. Das kommt fenaco besonders während der hektischen Erntezeit zugute. In dieser Zeit meldet die Cargo-Kundin einen Auftrag fünf bis zehn Tage im Voraus an, und SBB Cargo sucht nach einer flexiblen Lösung, indem Verkehre kombiniert und gebündelt werden. Gerade in den landwirtschaftlichen Gebieten der Schweiz, die kein ständiges Bahnangebot und nur eine beschränkte Wagenzahl pro Transport aufweisen, kann so innerhalb weniger Arbeitstage ein Verkehrsangebot entwickelt und gebucht werden. Transportsystemplaner Mathias Lehmann sagt: «Mit dem Konzept haben wir eine First-Mile-Lösung und eine gute Ergänzung zum Wagenladungsverkehr.» Einfach ist das Konzept deshalb, weil Planung und Umsetzung aus einer Hand erfolgen und weil der zuständige Lokführer den Transport dank Funkfernsteuerung alleine ausführen kann. Normalerweise braucht es für das Zustellen und Abholen der Bahnwagen bei den Getreidesilos zusätzlich einen Rangiermitarbeiter, der die Wagen mit einer Rangierlok zur Sammelstelle bringt respektive von dort wieder zurück zum jeweiligen SBB Bedienpunkt zieht. Dank einer Funkfernsteuerung auf der Rangierlok kann der Lokführer diese Aufgabe nun alleine ausführen.
Die Vorlaufzeit für die klassische Bahnlogistik ist während der Ernte sehr knapp.
Barbara Springer, Ressortleiterin Strategische Entwicklung, fenaco GOF
Wie dieser Ein-Personen-Betrieb in der Praxis aussieht, zeigt Lokführer Felix Eggenschwiler dem Projektteam beim LANDI-Silo in Huttwil. Er holt die vier Bahnwagen, die gleichentags am Morgen zugestellt und in der Zwischenzeit mit je 60 Tonnen Weizen beladen worden sind, mit einer Rangierlok ab, kontrolliert die Ladung und zieht die Wagen zum nahe gelegenen Bahnhof Huttwil. In Langenthal übergibt er die Wagen in den normalen Wagenladungsverkehr (WLV) zum Endkunden in Zürich.
Eggenschwiler ist einer von sechs Lokführern bei SBB Cargo, welche die erforderliche Zusatzausbildung absolviert haben und nun neben «normalen» Touren auch die neuen, kombinierten Touren fahren dürfen. Dem Lokführer gefällt es, er hat sich freiwillig für die Ausbildung gemeldet. «Es ist eine schöne Abwechslung, mal etwas anderes.»
Bedienpunkte flexibel bedienen
Das neue Transportkonzept von fenaco und SBB Cargo ist auch im Zuge der Bedienpunkteüberprüfung im Jahr 2018 entstanden. Damals hatte sich herausgestellt, dass viele der ländlichen Bedienpunkte von fenaco im WLV im Hinblick auf die Bilanz des ganzen Jahrs nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden konnten. Rund 40 Prozent der abzutransportierenden Mengen über diverse Bedienpunkte standen damals zur Diskussion, wie Barbara Springer erklärt. «Das war sehr viel und betraf auch einige für uns wichtige und grosse Bedienpunkte.» Eine neue Lösung war gefragt. Eine einfache und individuelle Lösung, die es fenaco weiterhin erlauben würde, den Grossteil ihrer Getreidetransporte mit der Bahn zu befördern. Denn: Der hohe Anteil an Schienentransporten war und ist für die fenaco Gruppe selbst ein wichtiges Unternehmensziel.
Die Idee, einzelne Sammelstellen in nur einer Tour anzufahren und die Verkehre damit dynamisch zu organisieren, schien wie gemacht für fenaco, eine Kundin von SBB Cargo, die schnell und flexibel auf unterschiedliche Transportmengen reagieren muss. «Eigentlich ist eine derart hohe Flexibilität und Kurzfristigkeit keine geeignete Voraussetzung für die Bahn», sagt Sarah Rust, «doch in enger Zusammenarbeit mit SBB Cargo haben wir eine Lösung geschaffen, die sogar in der kaum planbaren Erntezeit funktioniert.» Die Kunden jedenfalls hätten von der Umstellung auf das neue Agrarkonzept nichts gemerkt – ein positives Zeichen für die Ressortleiterin. Ein weiterer Vorteil: Für die Sammelstellen ist die Auslieferung per Bahn besser planbar als jene per Lastwagen. Die Verantwortlichen vor Ort wissen genau, wann ein Zug beim Silo ankommt und wie viel Zeit für das Beladen der Wagen zur Verfügung steht.
«Mut wurde belohnt»
Hört man dem Projektteam zu, könnte man denken, das Agrarkonzept laufe bereits einwandfrei. Gibt es keine Stolpersteine, keine Herausforderungen? «Doch», entgegnet Barbara Springer, «früher im WLV gab es sehr klare Strukturen, die fehlen uns aktuell noch.» Eines der Hauptziele sei es denn auch, von den «Hauruckübungen» wegzukommen und künftig besser und langfristiger zu planen. Das sehen auch Mathias Lehmann und Stefan Adamus von SBB Cargo so. Beide loben die enge, direkte und konstruktive Zusammenarbeit mit fenaco. «Das gesamte Projektteam ist stets lösungsorientiert, auch wenn es mal holpert», sagt Senior-Geschäftsentwickler Stefan Adamus. «Es hat viel Mut gekostet, damals das lev-Projekt und nun das neue Agrarkonzept zu etablieren, doch dieser Mut wurde belohnt.»
Fotos: Raffael Waldner