Das Bahnunternehmen Lausanne–Echallens–Bercher (LEB) baut einen Tunnel zwischen Lausanne-Chauderon und Union-Prilly. SBB Cargo ist für den Abtransport des Ausbruchs verantwortlich – und nimmt uns mit auf eine Tour zur Grossbaustelle.
Es ist 16.15 Uhr an diesem Mittwoch im Mai 2019. Wie fast jeden Tag seit dem 18. Oktober 2018 geht Jean-François Turrian (62) zu den Gleisen des Bahnhofs Sébeillon in Lausanne. Der Rangierlokführer übernimmt die Steuerung der «Spreitenbach», einer Re 620-Lokomotive. Begleitet wird er von Rangierarbeiter Simon Chambettaz (21). Um 16.21 Uhr geht’s los: Zuerst werden die Wagen angehängt, dann kommt eine umfassende Bremskontrolle und schliesslich erfolgt der Wechsel auf Gleis 248 in Richtung Tridel-Tunnel. Fast den ganzen Tag war der Zug abgestellt. Jetzt aber befährt er Gleise mit einem für Züge aussergewöhnlich starken Gefälle von 50 Promille. Simon Chambettaz sagt: «Wegen der schweren Ladung, die wir befördern werden, müssen wir sicher sein, dass alle Bremsen wirklich einwandfrei funktionieren.»
Bei jeder Rangierbewegung tauschen sich der Rangierlokführer und sein Begleiter mit der Betriebszentrale Lausanne aus, die das Netz fernverwaltet und die Gleise öffnet. Mit seinen fünf Wagen wird der Zug rückwärts zum Tridel-Tunnel manövriert. Der junge Mann übernimmt quasi die Funktion der Augen des Lokführers. Über Funk gibt er Anweisungen. Der Zug hält an. Die beiden Männer arbeiten sehr präzis. Am Boden und auf einer den Tunnel entlanglaufenden Druckleitung sind Farbmarkierungen angebracht. Wir befinden uns 525 Meter hinter dem Eingang des 3,8 Kilometer langen Tridel-Tunnels. Dieser ging 2007 in Betrieb, um den in der Region gesammelten Müll nach La Sallaz in die Verbrennungsanlage Tridel zu transportieren. Nun dient er auch dem Abtransport des Ausbruchs des nahe gelegenen neuen Tunnels zwischen den Bahnhöfen Union-Prilly und Lausanne-Chauderon. Der Abtransport des Ausbruchs beginnt erst um 16 Uhr, weil der Tunnel zuvor für den Mülltransport genutzt wird – ebenfalls ausgeführt von SBB Cargo.
Sicherheit geht vor
Ein Rangierarbeiter schaltet nun die 15 000-Volt-Leitung aus. Das zuständige Eisenbahnunternehmen Lausanne–Echallens–Bercher (LEB) hat einen Streckentrenner mit einem manuellen Schalter eingebaut, damit der Strom unterbrochen und die Fahrleitung oberhalb der fünf Wagen geerdet werden kann. «Für die Sicherheit des Zugteams und der Personen, welche die Wagen beladen, ist das extrem wichtig», sagt Éric Wichoud. Er ist seitens SBB Cargo für die Baustelle verantwortlich und begleitet uns auf der Reportage. Wichoud erklärt, dass die Leitung grün aufleuchtet, wenn sie unterbrochen ist, und rot, wenn sie unter Spannung steht. Als zusätzliche Sicherheitsmassnahme dient ein Wagen als Puffer zwischen den fünf Transportwagen und der Lokomotive. So kann der Stromabnehmer in Kontakt mit der Leitung bleiben, und die Lok ist vor Steinen geschützt, die von den Wagen kollern könnten.
Die Leitung ist grün. Es ist 16.42 Uhr. Der Zug ist bereit. Die Bauarbeiter bringen ein Förderband mit einer Kapazität von 400 Tonnen pro Stunde in Position. Das über den Tag im Tunnel ausgebrochene Gestein kommt an. Der erste Wagen wird beladen.
Von der Bahnlösung überzeugt
SBB Cargo erhielt von LEB den Auftrag für den Transport und das Recycling des Ausbruchs aus dem Tunnel, der zwischen den Bahnhöfen Union-Prilly und Lausanne-Chauderon entsteht. Bis zum Abschluss der Arbeiten 2020 sollen insgesamt 200 000 Tonnen Bauschutt – 120 000 Kubikmeter – befördert werden. Am 10. Mai 2019 waren es bereits 56 000 Tonnen. Um den Tridel-Tunnel für den Abtransport zu nutzen, wurde ein fünfzig Meter langer Stollen von der Baustelle bis zu den Gleisen gegraben. Der von der siebzehn Meter höher gelegenen Baustelle entfernte Ausbruch wird in ein Zwischensilo mit 480 Kubikmeter Fassungsvermögen geschüttet. Das Förderband übernimmt die letzten fünfzig Meter bis zum Zug.
Warum man sich für die Bahnlösung entschieden hat, erklärt Michael Chatelan, Projektleiter bei den Transports publics de la région lausannoise (TL): «Wir wollten den Tridel-Tunnel nutzen und suchten eine Bahnlösung, die vom Ausbruch bis zur Deponie reicht. Auf diesem Gebiet hat SBB Cargo viel Fachwissen. Die technische Herausforderung einer Beladung in starkem Gefälle meisterten die Verantwortlichen gekonnt. Im Vergleich zu Lastwagen bedeutet diese Lösung sicher Mehrkosten, doch sie verbessert das Projekt. Alle waren von der Lösung überzeugt: Gemeinden, Kanton und Partner. Die Anwohner werden weniger gestört, und die Umwelt wird geschont.»
Mit Lastwagen nicht machbar
Heute werden auf der Baustelle pro Tag bis zu 55 Lastwagenfahrten vermieden. Michael Chatelan betont: «Auch wenn man vom Umweltaspekt absieht: Technisch gesehen wären wir gar nicht in der Lage, den Ausbruch mit Lastwagen abzuführen. Im Tunnel bohren parallel vier Maschinen. Ein Baukran hätte nicht die Kapazität, das ganze Material wegzubringen. Auch den Verkehr der Fahrzeuge könnten wir nicht bewältigen.»
Die Bauherrschaft hatte strikte Anforderungen an das Unternehmen gestellt, das den Auftrag für den Tunnelbau gewinnen wollte. Zusätzlich musste es die optimale Funktion des Förderbands gewährleisten. «Infra Tunnel, das Unternehmen, das den Zuschlag erhalten hat, musste für das Förderband erheblich investieren», sagt Chatelan.
Erfreut über den Auftrag ist auch Jacques Cottet, Key Account Manager Baulogistik der Region West bei SBB Cargo. «Wir haben in der Westschweiz bereits ähnliche Aufträge für Abtransporte ausgeführt, und als uns das Ingenieurbüro Monod-Piguet kontaktiert hat, passte es auf Anhieb. Es gab mehrere Optionen, aber bei der Tridel-Lösung konnten wir unser Fachwissen einbringen. Für das ganze Westschweizer Team von SBB Cargo ist das ein echter Erfolg. Auch von der Erfahrung unserer Deutschschweizer Kolleginnen und Kollegen konnten wir profitieren. Die Umsetzung einer solch massgeschneiderten Lösung ist eine tolle Visitenkarte für die Zukunft.» Auch Éric Wichoud lobt die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Infra Tunnel, den TL und allen übrigen Partnern.
Auf «Tutu» ist Verlass
Der erste Wagen ist beladen. In knapp zehn Minuten hat das Förderband 57 Tonnen Schutt abgeladen. Während sich der zweite füllt, erzählt Jean-François Turrian: «Seit 32 Jahren bin ich Lokführer. Wenn alles gut läuft, beende ich meine Karriere mit diesem Tunnel.» Er schwärmt von «seiner» Lokomotive: «Sie ist Jahrgang 1975 und hat viel Kraft. Geradeaus kann sie 2500 Tonnen ziehen, und sie hat eine sehr hohe Bremskraft. Für die Arbeit in diesem Gefälle brauchen wir das dringend. Ich liebe diese Lokomotive, denn sie ist pure Mechanik.»
Éric Wichoud kann auf Turrian zählen. «Zum Glück ist er dabei. Seine Erfahrung ist wertvoll. Und er lebt die Leidenschaft für den Beruf. ‹Tutu› – so nennen ihn alle – kennt sich aus. Zuerst hatten wir vier Wagen pro Fahrt geplant. Er war es, der herausfand, dass auch fünf gehen.» Heute läuft die Beladung wie am Schnürchen – im Gegensatz zum Vortag, als das Ausbruchmaterial wegen der Feuchtigkeit im Silo steckengeblieben ist. Sobald ein Wagen voll ist, platzieren Turrian und Kollege Chambettaz gemeinsam den nächsten unter dem Förderband. Natürlich ist Präzision unabdingbar. Wenn man mit bereits vier vollen Wagen den fünften falsch positioniert, wird der Zug zu schwer und kann nicht mehr geschoben werden. Mit dem Gewicht der Wagen und der Ladung hat die Lokomotive bereits etwa 720 Tonnen am Haken. Der Mitarbeiter, der das Förderband bedient, meldet, heute seien zwanzig Wagen nötig. Das Team wird also vier Touren machen.
Vorbereitung für Tag 2
Es ist 18 Uhr. Der fünfte Wagen ist voll. Tutu kontaktiert die Zentrale und meldet die Abfahrt aus dem Tunnel. Drei weitere Züge fahren am Abend hin und zurück. Am Schluss sind es «nur» siebzehn Wagen. Sobald alle in Sébeillon angekommen sind, wird der Zug für den folgenden Tag zusammengestellt und das Total der Betriebszentrale gemeldet. So weiss der Lokführer im Linienbetrieb, der den Zug zur Deponie Le Lessus fährt, was er hinter sich herzieht. Für die zwei Kameraden endet der Tag nach einer umfassenden Bremskontrolle.
Endstation: Steinbruch Le Lessus
Am nächsten Morgen um 7.40 Uhr steht der Zug bereits im Steinbruch Le Lessus. Es ist der 92. Zugverband seit Beginn der Bohrungen. Er hat ohne Lok ein Gewicht (Ladung + Wagengewicht) von 1399,72 Tonnen. 906,72 Tonnen Ausbruch waren es am Tag unseres Besuchs auf der LEB-Baustelle. Die für die Entladung zuständigen Mitarbeitenden rangieren den Zug über die letzten 600 Meter, wo der Ausbruch in eine grosse Grube gekippt wird. «Das», sagt Éric Wichoud, «ist ein grosser Vorteil. So können acht bis neun Wagen auf einmal entleert werden, ohne Rangieren.»
Um 8.12 Uhr beginnt das Ausladen der Erde. Ein Stück weiter hinten sieht man den Hügel, der aus dem LEB-Ausbruch gewachsen ist. John Briquet (27) vertritt die fünfte Generation im Steinbruch. Er erklärt: «Der Ausbruch der LEB-Baustelle ist hochwertig, und wir wollen ihn nutzen. Derzeit warten wir auf die kantonale Bewilligung für eine Anlage, mit der wir ihn durchsieben und waschen können. Dann wird daraus Kies.» Sein Vater Luc arbeitet seit 1991 Vollzeit im Steinbruch und ist dessen Leiter. Er betont: «Dem Gesetz nach ist alles, was in einer Deponie ankommt, als rezykliertes Material anzusehen, aber das entspricht nicht der Realität. Wir haben eine Million Tonnen Ausbruchmaterial aus dem Lötschberg bearbeitet und zu Primärmaterial aufgewertet.»
Bis zu dreissig Wagen kommen täglich in der Deponie an. Für einen umfassenden Kundenservice muss SBB Cargo sich auf das Unternehmen verlassen können. «Le Lessus nimmt auch den SBB-Schotter aus der ganzen Westschweiz und unsere Wagen aus der Verbrennungsanlage Tridel auf. Die Zusammenarbeit ist hervorragend. Im Winter können wir den Aushub unserer Genfer Baustellen nicht mehr im Neuenburgersee deponieren, da die Fische dann laichen. Auch dann können wir auf Le Lessus zählen», sagt Éric Wichoud.