Digitalisierung führt auch in der Logistik zu einem radikalen Wandel. Wer morgen mithalten will, muss schon heute gross denken.
«Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält …» Auf diese Bitte von Goethes Faust liesse sich aus heutiger Sicht eine klare Antwort formulieren: die Logistik. Sie ist die DNA unserer Welt, ihr Gleit- und Bindemittel. Als globales Kommunikations- und Distributionssystem sorgt sie dafür, dass Waren und Dienstleistungen dort ankommen, wo sie gebraucht werden, und entwickelt seit Menschengedenken Innovationen. Erst waren es die Rauchzeichen der Lagerfeuer, später kamen Poststationen und Karawansereien, Flaggen und Leuchttürme, Morsezeichen und Funksignale dazu. Die dazugehörige Hardware bildeten die grossen Handelswege, die mit wohlklingenden Namen wie Gewürzstrasse, Via Regia oder Seidenstrasse Orte und Menschen verbanden.
Diese Vernetzungsrouten sind die Vorläufer der heutigen globalen Handelswege. Zu Wasser, zu Land und, viel später, auch auf der Schiene. Im Zuge der Industrialisierung entwickelte sich die Schiene zum eisernen Rückgrat der Logistik. Im 21. Jahrhundert sind es vor allem die digitalen Datenautobahnen, die die klassischen Handelsrouten ergänzen – und auch ersetzen. Die Logistik wird immer unsichtbarer, immaterieller und digitaler. Die Digitalisierung führt zu einem radikalen Wandel. Produktionsprozesse und Lieferketten verändern sich, ebenso Kommunikation und Konsumgewohnheiten der Verbraucher.
Demand Chain ersetzt Supply Chain.
Die Flexibilisierung der klassischen Wertschöpfungsketten durch Big Data, soziale Medien und mobile Geräte definiert dabei das Verhältnis zwischen Produzentin und Konsument auf völlig neuartige Weise: Der Konsument wandelt sich zu einem Prosumer, der seine Produkte nach individuellen Vorlieben überall und jederzeit ordern kann, und aus der Produzentin wird eine Anbieterin, die in der Lage sein muss, auf die Anforderungen ihrer Kunden jederzeit flexibel reagieren zu können, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Aus der guten alten Supply Chain wird eine konsumentengesteuerte Demand Chain. Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung fundamentale Auswirkungen auf die Logistikbranche hat. Denn der Onlineshopper ist ein Kunde, der auf seinen Klick in der digitalen Warenwelt eine prompte Lieferung in seiner realen Welt erwartet. Die meisten grossen Logistiker haben deshalb inzwischen mit Last Mile Services ihre Vertriebswege bis zur Haustür ihrer Kundinnen und Kunden ausgebaut. Paketstationen und Paketboxen ergänzen die Angebote.
Neben dem Mantra «Last Mile» kursieren in der aktuellen Logistik zwei weitere Zauberformeln, die für eine Anpassung an veränderte Konsumgewohnheiten stehen: «on demand» und «just in time». Diese Trends ziehen nicht nur entscheidende Veränderungen im Hinblick auf Umfang und Grösse der Lager nach sich, sondern erfordern eine hochkomplexe Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette. Auf die Spitze getrieben wird dies alles in Branchen, in denen Produkte im Sekundentakt verkauft werden und spätestens am nächsten Tag zugestellt sein sollen. Zalando wirbt wie viele seiner Wettbewerber mit «same day delivery» und investiert dafür verstärkt in automatisierte Hilfsmittel wie fahrerlose Transportsysteme, Drohnen, Roboter und AutoStore, die Menschen bei der Disposition und Kommissionierung der Waren unterstützen sollen.
Nur mit Kooperation und Zusammenarbeit.
Die Wirtschaft der Zukunft wird eine Netzwerkökonomie sein. Ihr Funktionieren gründet auf einer Anschlussfähigkeit der Systeme und Infrastrukturen sowie auf neuen Modellen von Kooperation und Zusammenarbeit. Da ist die Logistik als Lösungsprovider gut aufgestellt, denn sie ist von jeher eine Querschnittsbranche, für die Anschlussfähigkeit zu den unverzichtbaren Voraussetzungen gehört. Die aktuellen Anforderungen an Zusammenarbeit und Kooperation kommen der Logistik bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle denn auch sehr zugute. Eine der zentralen Querschnittsaufgaben bildet das autonome Fahren. «Zweifellos werden selbstfahrende Fahrzeuge die Welt der Logistik verändern», prognostizieren die Autoren der DHL-Studie zum Thema. Das gilt für den Personentransport ebenso wie für den Güterverkehr, wo neben den bewährten Infrastrukturen zunehmend neue Transportwege erschlossen und intelligent vernetzt werden. SBB Cargo etwa arbeitet mit Bosch Engineering zusammen, um einen Güterwagen der Zukunft zu entwickeln, der mithilfe von Telematik und Sensorik eine intelligente Vernetzung des gesamten Flottennetzes inklusive der Einbindung sämtlicher relevanter Daten zur Transportüberwachung und Wartung ermöglicht.
Neue Player erobern die Logistikbranche.
Kooperation ist die eine Seite der Digitalisierung, Konkurrenz im globalen Wettbewerb die andere. Gerade die grossen Onlinehändler haben einen enormen Wettbewerbsvorteil durch hauseigene Daten. «Während manche grosse Logistikdienstleister verzweifelt versuchen, ihre weltweiten Systeme auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, um wenigstens durchgängig Tracking und Tracing im Hier und Jetzt gewährleisten zu können, sagt Amazon bereits die Transportströme von morgen vorher», so Robert Kümmerlen, Mitglied der Chefredaktion der Logistikfachzeitschrift «DVZ».
Amazon ist dabei, ein weltumspannendes Logistiknetzwerk aufzubauen, das alle Schritte der globalen Supply Chain kontrolliert. Dass es vom Containerschiff bis zur letzten Meile in der Logistik im Grunde keine Disziplin mehr gibt, die Amazon unangetastet lässt, wurde spätestens im Februar 2016 deutlich. Damals kamen Jeff Bezos’ Pläne ans Licht, unter dem Projektnamen «Dragon Boat» eine komplette Logistikkette von den Fabriken in China bis an die Haustüren seiner Kunden in den USA und Europa aufzubauen. Kurz darauf wurde Bezos’ Deal über 20 Frachtflugzeuge bekannt, mit dem Amazon einen weiteren Schritt in Richtung Unabhängigkeit von UPS, DHL & Co. unternimmt.
Ein Vorteil der grossen Digitalkonzerne ist deren Neugier und Einfallsreichtum. Statt an der Optimierung von bestehenden Geschäftsmodellen zu basteln, starten die Newcomer gnadenlos durch und entwickeln neue Ansätze für eine Logistik der Zukunft.
Moonshots gefragt.
Es ist oft einfacher, etwas zehn Mal besser zu machen, als es zehn Prozent besser zu machen: Das ist die Auffassung von Astro Teller, Chef von Google X, der Forschungsabteilung von Alphabet Inc., wo man solche weiten Würfe «Moonshots» nennt – in Anlehnung an John F. Kennedys grosse Vision, einen Menschen zum Mond zu schicken.
Nicht ganz zum Mond, aber hoch hinaus will Amazon mit seiner Geschäftsidee der «Luftgestützten Ausführungszentren», kurz AFC. Damit gemeint sind Zeppeline, die mit Drohnen bestückt als fliegende Lager am oberen Rand der Troposphäre (knapp 14 000 m ü. M.) schweben sollen. Sobald eine Bestellung eingeht, wird eine Paketdrohne beladen, die dem Kunden die Ware im Segelflug bis vor die Haustür bringt.
Elon Musk fordert nicht nur mit Tesla die gesamte Automobilindustrie heraus: Mit SpaceX denkt er die Raumfahrt unter den Prämissen von Nachhaltigkeit und Wiederverwertbarkeit neu und vertritt mit Hyperloop den Anspruch, schneller als das Flugzeug und günstiger als die Bahn zu sein. Menschen und Güter sollen wie eine überdimensionierte Rohrpost auf Reisen geschickt werden. An der diesjährigen Hyperloop-Pod-Competition gewann eine Kapsel der TU München, die 324 km/h erreichte.
Moonshot-Qualität hat auch das Schweizer Projekt «Cargo Sous Terrain». Initiiert von SBB, der Schweizerischen Post, Swisscom, Coop, Manor, Migros und weiteren Partnern, sieht es eine Art U-Bahnnetz für Güter vor, um dem drohenden Verkehrsinfarkt des Schweizer Strassennetzes entgegenzuwirken. Auf drei Spuren sollen unbemannte und über eine Induktionsschiene elektrisch angetriebene Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h zirkulieren. Mit dem Wegfall von Staus und Wartezeiten verspricht «Cargo Sous Terrain», das Prinzip der Just-in-time-Lieferungen zu perfektionieren. Noch ist vieles zu klären, doch mit der Gründung einer Aktiengesellschaft haben die Partner im vergangenen Jahr eine erste grosse Hürde zur Realisierung des Vorhabens genommen. Wenn alles nach Plan läuft, könnte die erste Teilstrecke zwischen Zürich und Härkingen/Niederbipp im Mittelland ab 2030 in Betrieb genommen werden. Fernziel ist ein unterirdisches Logistiknetz von Genf bis St. Gallen. Angeschlossen werden sollen zudem die Städte Luzern, Basel und Thun.
Moonshots brauchen einen langen Atem. «Cargo Sous Terrain» zeigt, dass gross Denken unverzichtbar ist, wenn grosse Veränderungen angebahnt werden sollen. Das Vorhaben zeigt aber auch, dass umfassende logistische Innovationsprojekte von Kooperation und Zusammenarbeit profitieren. Mit Partnern aus der Wirtschaft, aus Städten und Gemeinden sowie der Politik können Kräfte und logistisches Know-how gebündelt und die Position gegenüber Amazon & Co. gestärkt werden. Die Zukunft gehört den Netzwerken. Und das Netzwerk ist die Logistik.
Dr. Anja Osswald ist Kulturwissenschaftlerin und Beraterin. Sie arbeitet u. a. für die Agenturen DIE DENKBANK und TRIAD Berlin. Beide beraten ihre Kunden bei Veränderungsprozessen und entwickeln als Think- und Dotanks Räume, in denen Zukunft gedacht, erlebt und gestaltet werden kann.