Anita Schoch (25) ist LKW-Fahrerin, Felix Steinacher (60) Lokführer. Beide transportieren Güter. Wir haben sie zusammen gebracht und zu ihrem Job befragt. Strasse und Schiene – zwei Welten für eine gemeinsame Mission.
Montagmorgen am Bahnhof St. Gallen. Es ist kurz nach 10 Uhr. Die «Rush Hour» der Berufspendler ist längst vorbei. Züge fahren gemächlich ein und aus, rundherum läuft der Betrieb entspannt. Wenige Passanten, ein paar wartende Taxis. Für die akustische Begleitung sorgen Unterhaltsarbeiten entlang des Bahnhofsgebäudes.
Dann taucht Anita Schoch mit ihrem Sattelschlepper auf. Knapp 14 Tonnen Leergewicht bringt das rund 14 Meter lange Gefährt auf die Waage. Die Platzverhältnisse sind eng, doch die junge LKW-Fahrerin der Camion Transport AG (CT) zirkelt ihren Koloss routiniert an parkenden Autos vorbei über ein enges Zufahrtssträsschen nach vorne in den Gleisbereich. Sie steigt rasch aus und bespricht sich mit dem Baggerfahrer, der die ohnehin schmale Fahrbahn mit seinem Vehikel versperrt. Zwei Minuten später ist der Bagger weg und wir fahren problemlos durch die Gasse. «Ach, ist doch gar kein Problem», sagt die 25-Jährige anschliessend mit bemerkenswerter Gelassenheit.
Der Partner für die aussergewöhnliche Begegnung erwartet uns weiter vorne bereits. Es ist eine rote Güterlok von SBB Cargo. Seelenruhig steht sie auf Gleis 15. In ein paar Stunden wird sie zum Tagesdienst ausrücken. Anita Schoch parkiert ihren LKW parallel zur Lok. Jetzt kommt auch der zweite Protagonist hinzu: Felix Steinacher, Lokomotivführer bei SBB Cargo.
Pingpong der Argumente
Die beiden finden schnell ins Gespräch. Wer sie beobachtet, spürt, dass sie irgendwie im gleichen Boot sitzen, so unterschiedlich ihr Alltag auch ist. «Mich würde interessieren, wie das bei euch mit den Arbeitszeitregelungen aussieht», fragt die LKW-Fahrerin mit ihrem Ostschweizer Dialekt ganz direkt. Als Lokomotivführer sei er arbeitsrechtlich gut geschützt, erwidert Felix Steinacher. «Wir erfüllen eine genau definierte Jahresarbeitszeit mit durchschnittlicher 42-Stunden-Woche. Eine Schicht kann zwischen sechs und elf Stunden dauern», erklärt der 60-jährige Aargauer. Anita Schoch macht grosse Augen. Ihre Arbeitswoche beträgt in der Regel 46 bis 48 Stunden. «Laut Gesetz können unsere Schichten sogar 15 Stunden dauern. Selbstverständlich mit den verordneten Ruhepausen.»
Die Diskussion zwischen den Generationen ist lanciert. Ein Pingpong der Argumente zu Vorzügen und Nachteilen des jeweiligen Jobs. «Mir passt es hervorragend, dass ich vor mir stets freie Bahn habe und jeden Tag ganz unterschiedliche Güter mit einem Gesamtgewicht bis 1100 Tonnen transportiere.» Das mache seinen Job abwechslungsreich, spannend, nützlich, sagt Felix Steinacher, der sich einst zum Primarlehrer ausbilden liess. Bis Mitte 30 unterrichtete er. Warum der Umstieg auf die Lok? Er sei irgendwann ausgebrannt gewesen und habe diesen totalen Neuanfang gebraucht. «Ich war zwar nie Bahnfanatiker, aber trotzdem immer fasziniert von der Logistik auf der Schiene.» Nach abgeschlossener Ausbildung zum Chauffeur kam er vor 25 Jahren zu den SBB, lenkte zunächst S-Bahnen und Regionalzüge. Als sich die Lokführer um die Jahrtausendwende entweder auf den Personen- oder den Güterverkehr spezialisieren mussten, entschied sich Steinacher für Letzteres und wechselte zu SBB Cargo.
Anita Schoch hört interessiert zu. Die 1100 Tonnen beeindrucken sie schwer. «Da kann ich mit meiner Ladekapazität von maximal 14 Tonnen nicht wirklich mithalten», schmunzelt sie. Immerhin könne sie auch schwere 40-Tonner lenken. Die «freie Bahn» der Lok bleibe in ihrem LKW-Alltag meist Wunschdenken. Regelmässige Staus machen einen Strich durch die Rechnung, ebenso unpassierbare Zufahrtsstrassen im Stadtverkehr wegen falsch parkender Autos, anderer LKWs oder Baggerfahrzeugen, wie eben hier am Bahnhof St. Gallen erlebt. «Manchmal bin ich länger blockiert, was zu verspäteten Lieferungen bei Kunden führt. Je nach Dringlichkeit und Laune des Empfängers muss ich dann auch mal eine wütende Tirade über mich ergehen lassen», räumt die junge Chauffeuse ein. Leer schlucken und die Gemüter beruhigen, laute dann ihr Motto.
Meistens klappt das prima. Als ausgebildete Detailhandelsfachfrau hat sie den professionellen Umgang mit Kundschaft gelernt. «In der von männlichem Testosteron dominierten Lastwagen- und Gütertransportbranche geht es zwar markant rauer zu als im Detailhandel, doch ich weiss mich zu behaupten», hält die als Bauerntochter aufgewachsene Frau fest. Die zahlreichen Kontakte mit ganz unterschiedlichen Menschen gehören für Anita Schoch neben der Faszination für LKWs zu den Highlights in ihrem Beruf. «Ich geniesse die kurzen Schwätzchen an jeder Abladestelle, es wird gescherzt und auch über persönliche Dinge gesprochen.»
Felix Steinacher beschreibt sich ebenfalls als kommunikativen Typ. Er räumt jedoch ein, dass diese Komponente in seinem Berufsalltag tendenziell zu kurz komme. An den Zielbahnhöfen, die er mit seinen Güterzügen anpeilt, hat er mit dem Ablad der Ware nichts zu tun und daher auch keinen direkten Kundenkontakt. «Das vermisse ich schon etwas.» Er erlebe auch ganze Einsatzschichten, ohne dabei einen einzigen Menschen anzutreffen. Wo einst verbale Interaktion mit Bahnhofvorständen oder Rangierpersonal stattgefunden habe, springe heute häufig die Technik ein. «Bis vor Jahren setzte SBB Cargo zwei Personen ein, um die Güterzüge zu kontrollieren und zu vermessen. Heute übernimmt häufig die Elektronik diesen Job. Die bis auf zwei Kommastellen genau erfassten Daten werden mir online direkt auf einen Bildschirm im Führerstand übermittelt.»
Felix Steinacher beklagt sich nicht. Dass der Kostendruck auch im Gütertransport konstant steige und den technischen Fortschritt damit beschleunige, ist ihm klar. Die Entwicklung hat Steinacher in seinem Führerstand etwas einsamer, dafür sein persönliches Anforderungsprofil vielseitiger gemacht. «Im Gegensatz zu früher lege ich heute zum Beispiel selber Hand an, wenn es um die Verkopplung der Lok mit einem Güterwaggon geht.»
Anita Schoch möchte wissen, ob solche Schwerarbeit einem 60-Jährigen noch zumutbar sei. Felix Steinacher lacht. «Ich bin körperlich noch gut beieinander und bewältige solche Chargen problemlos.» Dass der Lokführerjob körperlich anspruchsvoll sei, bestätigt er gleichwohl. Vor allem die Rhythmuswechsel bei der Arbeitszeit mit Einsätzen, die frühmorgens um 2 Uhr beginnen, habe er mit 45 auf jedenFall lockerer weggesteckt als heute.
«Wie ist denn das bei dir mit der physischen Belastung, Anita?», fragt der Vater von drei Kindern, die alle älter sind als seine Gesprächspartnerin. In der Tat gebe es hie und da Lieferungen, die sie aufgrund der geringen Spannweite ihrer Arme beim Ablad vor physikalische Probleme stelle. «Dann habe ich so meine Tricks und schaffe es in der Regel, dass mir der Kunde vor Ort freundlicherweise zur Hand geht», sagt die eher klein Gewachsene mit einem Augenzwinkern. Gerade in den frühen Morgenstunden sei an der Lieferadresse aber manchmal niemand zugegen. Dann stellt sie die Palette mit ihrem Hubstapler auch mal vor den Eingang und informiert den Kunden per Telefon.
Arbeitsbeginn für die LKW-Fahrerin ist jeweils um 5.45 Uhr in der CT-Lastwagenzentrale Schwarzenbach bei Wil SG. Diese liegt direkt an der Autobahn und verfügt über einen Schienenanschluss. Güterzüge bringen die Ware mitten in der Nacht. Schoch und ihre Berufskollegen – darunter auch einige Frauen – beladen ihren LKW gemäss Einsatzplan. Zieldestination der jungen Chauffeuse ist meist die Stadt St. Gallen, wo sie bis zur Mittagszeit durchschnittlich 12 bis 15 Kunden mit allerlei Gütern beliefert. «Von Pflanzen über Farbtöpfe, Kartonagen bis zu ganzen Motortriebwerken transportieren wir alles, was Gott schuf», sagt Schoch. Einzige Ausnahmen: «Alles, was lebt oder gefroren ist.»
«Eine logistische Meisterleistung»
Steinacher steigt in seinen Führerstand und macht seine Lok startklar. Die Vorbereitungsarbeiten für seine heutige Standardtour, die über Wil und Winterthur bis zum Rangierbahnhof Limmattal (RBL) in Dietikon führen wird, dauern in der Regel 20 bis 30 Minuten. Wir sitzen in einer kleinen, vierachsigen Lok. «Bei den sechsachsigen Modellen dauert die Prozedur nur unwesentlich länger», erklärt er. Normalerweise startet er seine Dienste am Bahnhof Bülach oder am RBL Dietikon. Es sind meist flexible Touren, die täglich je nach Fracht und Zielort neu geplant und getaktet werden. «Eine logistische Meisterleistung», schwärmt Steinacher, der sich vor Jahren selbst mal für eine Stelle im Planungsteam interessierte. «Nach ein paar Schnuppertagen spürte ich jedoch, dass dieser permanente Stress nichts für mich ist.»
Langsam denke er sowieso ans Kürzertreten. Steinacher öffnet einen Brief. Absenderin ist SBB Cargo. «Der war heute Morgen in meinem Brief kasten.» Es ist die erhoffte Bestätigung, dass Steinacher sein Arbeitspensum per zweite Jahreshälfte 2015 auf 90 Prozent reduzieren kann. Die Freude ist dem Lokomotivführer anzusehen. Bis zu seiner Pensionierung in fünf Jahren werde er mit vollem Elan dabei sein, allenfalls sein Pensum stufenweise weiter reduzieren. «Sofern mein Arbeitgeber damit einverstanden ist.»
Allmählich drängt die Zeit, um Punkt 14.30 Uhr müssen die Räder des 80-Tonnen-Vehikels in Richtung Wil losrollen. Die Verabschiedung von Anita Schoch ist herzlich. Beiden ist anzusehen, dass sie den Einblick in die verwandte und doch so fremde Welt des Gegenübers genossen und viel Wissenswertes erfahren haben.
Anita Schoch legt den Rückwärtsgang ein. Mit Coolness und Präzision navigiert sie ihr 14 Meter langes Vehikel über das enge Strässchen zurück auf den Platz vor dem Haupteingang des Bahnhofs. Das Steuerrad scharf links eingeschlagen geht es in Richtung Autobahn, zurück nach Schwarzenbach, wo wir heute Morgen gemeinsam die Tour in Angriff genommen haben. Es folgt ein letzter Zwischenhalt: Gossau SG, wo sie bei einem Kunden mehrere Paletten mit Zimmerfarben abholen muss.
Zum wiederholten Mal beweist Anita Schoch heute, wie genau sie mit ihrem LKW-Hinterteil die Laderampe treffen kann. Zentimeterarbeit. Die Farbtonnen müssen heute Nacht in Schwarzenbach auf den Güterzug verladen werden. Am Empfang warten freundliche Gesichter. «Schreiben Sie unbedingt, dass immer nach Besuchen von Anita die Stimmung in unserem Abfertigungsteam markant besser ist», sagt ein Angestellter.
Das Kompliment wirkt, die Zufriedenheit weicht nicht mehr aus dem Gesicht der Chauffeuse. Sie wird noch heiterer, als kurz vor der Ankunft in Schwarzenbach auf der Landstrasse ihr Freund entgegenkommt. Auch er ist Berufs-LKW-Fahrer. Mit Licht- und Hupsignalen wird der Moment gefeiert.
Cargo Magazin 2/15
«Mein Partner ist ein echter Freak, der Ledersitze und allerlei weitere Specials in seinem Laster verbaut hat», verrät Anita Schoch. Gemeinsam besuchen die beiden in der Freizeit LKW-Treffen.
Wir erreichen den Fuhrpark. Es ist kurz nach 16 Uhr. Vor über zehn Stunden hat Anita Schoch hier ihren Arbeitstag begonnen und macht sich jetzt ans Entladen der Farblieferung. Ist danach Feierabend? «Eher nicht», sagt sie ohne Missmut. Eventuell habe der Chef noch einen Extraauftrag. Tatsächlich: Tagsüber ist auf dem Schienenweg neue Ware eingetroffen. Die Lieferungen müssen noch heute zu den Kunden raus. Weil Anita Schoch ihre Tour verhältnismässig früh beendet hat, muss sie nochmals los. Zum wiederholten Mal karrt die junge Frau mit dem Hubstaplervollbepackte Paletten in ihren LKW. Dann startet sie den Motor und rollt in Richtung Autobahn. Ihr Ziel: Die engen Strassen von St. Gallen City.