«Die alte Dame war immer zuverlässig»

Ae 6/6Die drei Schweinwerfer tauchen aus dem Nebel auf und kommen gemächlich näher. Das Thermometer zeigt Minusgrade an, der Minutenzeiger springt auf 2:37. Pünktlich auf die Minute und mit einem leichten Ruck kommt der Zug mit der Nummer 60599 auf Gleis 711 in der Einfahrtgruppe des Rangierbahnhofs Limmattal (RBL) nahe Dietikon zum Stehen. Alltag im Cargo-Betrieb. Und eigentlich nichts Besonderes. Wäre da nicht die vorgespannte Ae 6/6. Denn nach diesem Zughalt ist definitiv Schluss: Eben hat der letzte kommerzielle Transport mit einer Lok des Typs Ae 6/6 geendet.

Mario LunaIm Führerstand sitzt Mauro Luna. «Mein Dienst hat abends um Viertel vor sechs begonnen.» Er habe die Lok aus dem Depot geholt und sei vom RBL nach Lausanne-Triage gefahren. Nach einer Stunde Pause ging es wieder zurück. «Bei der Rückfahrt hatte ich 1041 Tonnen Last am Haken, 84 Achsen, 391 Meter Zuglänge.» Doch das sind nur die technischen Daten. Mitgefahren sei auch das Bewusstsein, das dies die letzte Fahrt gewesen sei.

Rangierer Gashi Nuhi hängt die Wagen ab, die Betriebsleitzentrale mahnt zur Eile. «Die Leute wollen heim», schnarrt es durchs Telefon. Lokführer Luna kippt Schalter, dreht am Geschwindigkeitsrad und die Maschine kommt langsam in Fahrt. Luna wird still. Er fährt am Ablaufberg vorbei zur Ausfahrtgruppe Ost des RBL. Noch einmal den Führerstand wechseln, anfahren, abbremsen (Hören Sie hier die Geräusche dazu).

Der allerletzte Führerstandwechsel, das allerletzte Anfahren, das allerletzte Abbremsen. «Oh nein, dort stehen ja schon ein paar Maschinen», entfährt es ihm, als er ins Zielgleise kommt. Tatsächlich: Seine Lok mit der Nummer 11470 wird Teil eines Lokzugs. Alle Maschinen hier haben nur noch die letzte Reise vor sich.

Die SBB hat insgesamt 120 Lokomotiven dieses Typs gekauft. Die erste wurde 1952 in Betrieb genommen. Wegen ihres Einsatzgebiets am Gotthard hat der Volksmund die Universallok schon bald Gotthardlok genannt. Zudem war sie am Simplon im Einsatz. Die ersten 25 der Serie trugen die Namen der Kantone. Chromzierleisten am Lokkasten sowie das markante Schweizerkreuz an Stirn und Heck gaben der Lokomotive ein unverwechselbares Aussehen. Es folgten Loks, die auf die Namen der 25 Kantonshauptorte getauft wurden. Weitere Loks erhielten Namen von grösseren Städten und Gebieten. Allen gemeinsam: An jeder Flanke ein Wappen mit Kantons- oder Ortsbezeichnung. Die 11470 war für Brugg unterwegs.

«Die alte Dame war immer sehr zuverlässig», sagt Luna. «Sie war meine erste Streckenlokomotive als Lokführer.» Unzählige Stunden sei er im Führerstand gewesen. Er habe insgesamt, so schätzt er, gut 500‘000 Kilometer mit ihr zurückgelegt. Das ist ein Dutzendmal rund um die Welt. «Die Ae 6/6 bringt ihre Kraft auf die Schiene», erklärt der 46 Jahre alte Lokführer die Vorzüge. «Im Störungsfall konnte man mit Schraubenzieher, Zange und Hammer einiges bewirken.» Er steht auf, geht durch die schmale Tür in den Maschinenraum und zeigt, wo er vor Jahren einen elektronischen Kontakt in der Mechanik wiederhergestellt hat, als gar nichts mehr ging. «Alle riefen nach einer Ersatzlok. Doch ich machte ein paar Handgriffe und die Maschine lief wieder.» Es rumpelt. Der Lokführer schaut nach. «Wir müssen raus, sie haben die Zugmaschine für den Lokzug angehängt. Die haben es aber eilig.»

Die SBB setzten die Ae 6/6 in den 1950er und 1960er Jahren sowohl für den Reise- wie auch für den Güterverkehr. Seit den 1990er Jahren zogen die Lokomotiven vorwiegend Güterzüge. Für den Reiseverkehr waren sie zu langsam geworden. Mit einem durchschnittlichen Alter von 55 Jahren genügen sie heute auch den Anforderungen eines effizienten Güterverkehrs nicht mehr. Die Flotte müsste komplett saniert werden, was Millionen kosten würde. Schrittweise ist die Ae 6/6-Flotte reduziert worden. Die letzte Maschinen sind jetzt ausser Betrieb und werden bald verschrottet. SBB Historic bewahrt einige als historisches Erbe der SBB.

Jetzt steigt Luna das allerletzte Mal aus dem Führerstand. Er schweigt einen Moment und verabschiedet sich still. «Jetzt bin ich doch ein bisschen sentimental.» Ein letzter Blick zurück. Später zückt er sein Smartphone. In Lausanne-Triage habe er ein Bild von der Lok gemacht. «Das mache ich normalerweise nicht», sagt er fast entschuldigend, als er das Foto zeigt. «Es ist schon speziell, der letzte zu sein, der mit ihr kommerziell fahren durfte. Das ist eine Ehre.» Für die Ae 6/6 endet die letzte Fahrt, für Mauro Luna ein ganz spezieller Dienst und für die SBB eine Ära.

Hören Sie Lokführer Mauro Luna nach seiner letzten Fahrt.

In eigener Sache:
Mit dieser Reportage verabschiedet sich Martin Radtke von den Leserinnen und Lesern des Cargo Blogs. Er verlässt SBB Cargo und arbeitet ab 1. Januar 2014 in der Privatwirtschaft.

Die ausrangierten Ae 6/6 werden zerlegt. Ein grosser Teil der Materialien werden wiederverwertet. Lesen Sie dazu den Beitrag im Cargo Magazin.

10 Kommentare zu “«Die alte Dame war immer zuverlässig»

  1. Immer wieder spannend, wie sich Cargo selber „bloss stellt“..
    Um jeden Preis will man sich jedes Jahr von den zuverlässigen Ae 6/6 trennen..
    Was passiert?? Nebst dem Personalmangel – der sowieso schön geredet wird – herrscht Lokmangel!
    Egal.. die Loks müssen abgestellt werden!
    Kaum abgestellt, müssen 3 von ihnen abermals reaktiviert werden..
    Als Lf bei SBB Cargo fragt man sich schon, wie eigentlich geplant wird?!?
    Ohne Plan etc??
    Seriös sieht anders aus!
    Die Ausreden betreffend, man wisse nie ganz genau was wann „laufen“ könnte, kennt man schon..

    1. Danke für die Kommentare. Tatsache ist: Die Ae 6/6 wird definitiv ausrangiert. Die Loks haben mit bis zu 50 Jahren im Betrieb das Ende ihrer Laufzeit erreicht. Zudem erhöht die derzeitige Typenvielfalt die Komplexität z.B. bei der Beschaffung von Ersatzteilen und ist daher ökonomisch nicht sinnvoll. Einzelne Lokomotiven werden in den nächsten Tagen jedoch punktuell noch eingesetzt. In Zukunft setzt die SBB Cargo auf die Streckenloks Re 620 und Re 420. Auch die Rangierloks Am 843 und die neuen Hybridloks Eem 923 können regional im Streckendienst eingesetzt werden.

      1. Danke für ihre Antwort Herr Imfeld!
        Doch genau diese Antwort ist als relativ zu sehen.
        Wie will man den Lokmangel beseitigen, wenn es nur wenige Tage nach der Abstellung der Ae 6/6 schon wieder „Lichterloh“ am Cargo-Fahrzeug-Himmel brennt und man erneut gezwungen war, Reaktivierungen vorzunehmen? Ersatzteile wären genügend vorhanden gewesen, hätte man nicht mittels Nacht-Nebel-Aktionen jedes Jahr diverse kaum ausgeräumte und oft komplette Ae 6/6 an die bekannten Schrottfirme geliefert :-/ Und soo verfügbar sind die neuen Eem 923 auch nicht..
        Man beachte mal die Werkstatt-Aufenthalte..
        Ebenso die vielen schadhaft abgestellten oder sogar schadhaft im DIENST stehendenen Re 420/421/430 oder Re 620.
        Alles in allem sehr dürftig!

        1. Leider sind mehrere Loks gleichzeitig ausgefallen. Natürlich wurde dann auf die Ae 6/6 zurückgegriffen, da diese noch fahrtüchtig sind und noch nicht der Verschrottung zugeführt. Die zusätzlichen Einsätze der Ae 6/6 waren so nicht geplant und werden bald beendet sein. Dank einem effizienteren Betriebskonzept benötigt SBB Cargo in der Schweiz zukünftig weniger Lokomotiven.

  2. Totgeglaubte leben doch länger, die Ära der Ae 6/6 ist noch nicht vorbei. Da SBB Cargo offensichtlich doch zuwenig Streckentriebfahrzeuge hat wurden am Montag nach dem Fahrplanwechsel eiligst wieder einige Ae 6/6 in den Dienst gestellt.

  3. Wir verstehen die Reaktionen sehr gut. Doch wir haben um die Qualität für unsere Kunden im Weihnachtsverkehr sicherzustellen nicht am Entscheid festgehalten sondern die „Alten Damen“, solange die Zuckerrübentransporte noch rollen, für einige Einsätze weitergenutzt. SBB Cargo hat nicht zu wenige Loks, der Engpass entstand aufgrund gehäufter Defekte. (ca 45 Loks!)

  4. Hallo

    Ich war Zugbeleiter von 1973-2000. War in Bellinzona und sonst in der Schweiz. Habe unzählige Stunden auf dieser Lok erlebt, aus dem Fenster geschaut, vom hinteren Führerstand aus. Ob Nachts o. Tags, immer waren wir Unterwegs. Doch so schön wie die Lok war, sie hatte einen rechten Schönheitsfehler. Denn sie hatte 2Bugis und die innerste Achse der Buggis waren die Räder in den engen Kurven in der Luft und konnten nicht greifen. Wenn es nass war oder der Zug sehr lang war, so konnte die Kraft am Gotthard die 650Tonnen nicht vorwärts bringen und wir blieben stecken. Ja trotzdem, die Zeit vergeht und alles verändert sich. Es war auch immer ein Thema, warum im Führerstand 125km/h angeschrieben war. Da es eine A-Zugreihe war lief sie nur 120km/h. Ja so kleine Fehler die kamen immer wieder zum Vorschein. Aber Ihr könnt ja die Lok. auf einer Strecke im Ranggierbahnhof oder sonst auf einer Nebenlinie betreiben. Fans und Anhänger die es immer wieder bewunderts die hat es immer an jeder Liene entlang.

    Gruss
    M. Meier

  5. Also ich Patric (shadowman83) wünsche dem Martin alles gute für die zukunft. DANKE :-) für deine schreibereien hier war immer sehr informativ. Lg Patric

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