Hier wird investiert, hier wird ausgebaut. Ein Besuch beim Vorzeigebahnhof mit klingendem Namen: Cadenazzo.
Es ist ein Ort der Giganten. Nur drei Autominuten entfernt vom beschaulichen Personenbahnhof in Cadenazzo fühlt man sich winzig und bedeutungslos. Am Freiverlad von SBB Cargo an der Via Industrie fahren die Lastwagen ein, meist frühmorgens oder spätabends. Container mit schweren Waren werden gegen leere getauscht, vom Wagen auf den Zug gehoben und andersherum. Strasse und Schiene sind hier dicht zusammengerückt. Der Umschlagterminal besteht aus vier je 200 Meter langen Gleisen. Viel Teerfläche liegt dazwischen – Riesen brauchen Platz –, und der Boden wurde extra verstärkt, damit er ihr Gewicht tragen kann.
Fast alles wird von Cadenazzo aus auf eine Bahnreise in den Norden geschickt: Lebensmittel, Möbel, Industrieprodukte, Zement, Pakete, Salz. Ein rotes Monster verrichtet dabei Schwerstarbeit, aber mit scheinbarer Mühelosigkeit. «Der Reach-Stacker!», ruft Teamleiter Giorgio Biasca, gerade eingetroffen, und kommt dabei nur schwer gegen den Lärm des Motors an. Er zeigt auf die Kreuzung aus Riesentraktor und Kran. «Der Greifstapler braucht dreizehn Meter Platz zum Verladen, kann fünfzig Tonnen heben oder senken und sicher nicht von jedermann gefahren werden.» Kollege Marcelino Mantilla ergänzt sogleich: «Es sieht definitiv einfacher aus, als es ist.» Er zumindest sollte das Ding nicht steuern, er lenkt lieber als Coordinatore Regionale von SBB Cargo Ticino die Standorte der Region in die richtige Richtung. Mantilla winkt in die Fahrerkabine hinein. Der Fahrer wirkt gelassen. Und das, obwohl er Millimeterarbeit leistet. Die Luft steht, die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel.
Hier funktioniert’s
Cadenazzo mit seinen fünfzehn gut geschulten Mitarbeitern ist einer der Vorzeigestandorte von SBB Cargo. Hier rentiert das Geschäft, hier stimmt alles: die Zahlen, die Angebote, die Mitarbeitermotivation und die Kundenfeedbacks. Das ist selten, gilt SBB Cargo doch als Sorgenkind der SBB und ist oft von Abbau die Rede (siehe S. 9). Aber nicht so in Cadenazzo oder in weiteren Ballungsgebieten wie etwa Gossau SG oder Genève-La Praille. Dort bleiben die Bedienpunkte ganz sicher bestehen. Dass dort teilweise sogar ausgebaut werden soll, lässt sich mit den aktuellen Verkehrsverlagerungen bei der Schiene erklären: Einerseits werden immer mehr Produktionsstätten klassischer Kunden von SBB Cargo, etwa aus der Stahlbranche, ins Ausland verlagert. Innerhalb der Schweiz wird somit erst einmal weniger transportiert. Anderseits wird dieser Rückgang durch Verkehrsströme aus anderen Bereichen, zumindest rund um die Wirtschaftszentren, ausgeglichen: im Handel, in der Ver- und Entsorgung sowie in der Paket- und Stückgutlogistik. «Das Transportwesen muss sich nach der wirtschaftlichen Entwicklung richten und neu aufkommende Bedürfnisse befriedigen, die etwa in der Stückgutlogistik durch E-Commerce entstehen. Heute im Netz bestellt, morgen vor der Haustür – das wird erwartet. Ob ein Stahlträger einen Tag länger unterwegs war, ist hingegen nicht so relevant», so Rolf Elsasser, Leiter Anlagenmanagement bei SBB Cargo, auf Anfrage am Telefon. Ein wichtiges Thema sei auch die Entwicklung der urbanen Räume. «Die Ver- und Entsorgung wird immer kniffliger. Wir haben zwar noch keine Megacitys wie Singapur oder London. Doch auch hierzulande steigt das Strassenverkehrsaufkommen. Es ist an uns, dieses Problem zu lösen.» Daher werde die Schiene als Zulieferer der Versorgungs- und Entsorgungsgüter in urbanen Räumen an Bedeutung gewinnen (siehe S. 20). Und: Ein guter Standort sei einer, der die letzte Meile auf der Strasse möglichst kurz halte: «Je mehr Aufwand im Strassenvor- und – nachlauf, desto höher die Kosten.» Auch darum sei die geografische Lage von Bedeutung.
Zusammenfassend kann man sagen: Bedienpunkte werden dann zu lohnenden «Hotspots», wenn sie Wirtschaftsräume mit einem hohen Branchenmix erschliessen. Denn das garantiert eine hohe Nachfrage und Grundauslastung der Schiene. Der Kunde profitiert dann von der guten Anbindung in Form der kompletten Produktepalette von SBB Cargo, einer hohen Bedienfrequenz und Transportqualität – und zwar zu wettbewerbsfähigen Preisen.
Steigendes Verladevolumen
In Cadenazzo, auf dem Weg zum Bürohäuschen des Teams von SBB Cargo, rückt ein grosses flaches Gebäude ins Sichtfeld. Schienen führen aus ihm hinaus zum Güterbahnhof. Daneben wird tüchtig gebaut. «Das ist das Postgebäude», sagt Mantilla. «Gerade heute Morgen haben wir uns mit Vertretern der Post getroffen. Man ist sehr zufrieden. Das ist erfreulich.» Als erfreulich dürfte es Mantilla auch einstufen, dass ab September 2019 hier eine stärkere Nutzung des kombinierten Verkehrs vonseiten der Post geplant ist, da der gelbe Riese gerade eine neue Paketanlage in direkter Nachbarschaft erbaut und dafür rund 50 Mio. Franken investiert.
Das Verladevolumen in Cadenazzo steigt und steigt also weiter. Kurz nach der Eröffnung des LKW-Umschlagplatzes 2012 hatte SBB Cargo dort gerade einmal drei feste Kunden mit 50 Umschlägen im Monat. Jetzt sind es bereits vierzehn Kunden mit 1700 Umschlägen. Die errichtete Plattform für den kombinierten Verkehr hatte damals rund 11 Mio. Franken gekostet. Man siedelte sie westlich von Cadenazzo an, gut an die Wirtschaftszentren angeschlossen, und integrierte den bereits am Bahnhof vorhandenen Freiverlad für den System-Wagenladungsverkehr.
Zuvor hatte man bereits die beiden konventionellen Freiverlade von Castione und Giubiasco zusammengelegt. Anders als früher mit den im Kanton verstreuten Umladestationen kann jetzt sehr viel schneller und flexibler umgeladen werden. Ein weiteres Erfolgsrezept ist, wie bei den anderen Hotspots auch, tatsächlich die Lage. «Sie macht Cadenazzo interessant als Umladeplatz zwischen Strasse und Schiene», bestätigt Mantilla. Cadenazzo ist zwar ein kleiner Ort, aber auch ein Tessiner Verkehrsknotenpunkt. Es liegt in einer wirtschaftlich wichtigen Region nahe der Zentren entlang der Nord-Süd-Achse. «Auch das hohe Verkehrsaufkommen auf der Strasse macht den Bahnverkehr hier attraktiv.» Und die hohe Konzentration der Kunden ermögliche erst einen guten Service. «Das Angebot von SBB Cargo ist komplett und berücksichtigt alle Bedürfnisse. Im Logistikzentrum von Cadenazzo können unsere Kunden also frei wählen, welches unserer Produkte für sie am besten geeignet ist.»
Ein grosser Vorteil sei auch, dass man durch die Zentralisierung der Leistungen von SBB Cargo Synergien nutzen, Ressourcen schonen und die Reaktionsfähigkeit bei unerwarteten Ereignissen verbessern könne. «Wir können spontan umdisponieren, da wir ein exzellent geschultes Team und eine hervorragende Infrastruktur vor Ort haben. Zu Spitzenzeiten kann man schnell Schichten anpassen oder Gleise des Personenverkehrs mitbenutzen.»
Der Umschlagterminal stärkte zum einen die Position des Güterverkehrs im Tessin und zum anderen die Strategie von SBB Cargo, den kombinierten Verkehr sukzessive auszubauen. «Ich sehe viele Ähnlichkeiten zur Transformation, die SBB Cargo anstrebt: Man vereinfachte die Prozesse und investierte in Technologien wie den Reach-Stacker», so Mantilla zur Geschichte von Cadenazzo. «Es funktioniert.»
Erweiterung geprüft
«Wir stossen sogar bald an unsere Grenzen!», betont der Teamleiter in Cadenazzo, Giorgio Biasca, und bittet an einen runden Tisch mitten im winzigen Büro mit Blick auf den 2012 erbauten Freiverlad. «Entschuldigen Sie, wir haben hier nicht viel Platz.» Grosszügig ist hier nur der Schienenbereich, der Ort der Giganten. Immerhin ist es aber kühl. «Die Prognosen gehen von einem moderaten, aber regelmässigen Anstieg des Verkehrsaufkommens in Cadenazzo in den nächsten fünf bis zehn Jahren aus. Doch schon heute verzeichnen wir eine sehr hohe Auslastung, teilweise sogar von hundert Prozent.» Gerade prüfe man eine Erweiterung der Kapazität, erzählt der Teamleiter weiter, um die wachsenden Bedürfnisse der Kunden auch in Zukunft erfüllen zu können.
Welches genau die Alternativen sind, möchte hier aber niemand konkret benennen. Der Prozess, bei dem die für alle bestmögliche Lösung gefunden werden muss, steht erst am Anfang. Studien müssen Fakten liefern und Empfehlungen abgeben, örtliche Politiker, die Bevölkerung und viele weitere Parteien sind einzubinden.
Flexibel, schnell, effizient
Ein LKW mit dem bekannten orangen Schriftzug «Galliker» fährt vor. Nur einen Augenblick später hat der Reach-Stacker den Container vom Lastwagen gehoben und auf einen leeren Zuguntersatz gestellt. Disponent Gerardo Rardo kommt ins Büro und grüsst, man kennt sich gut. Er zeigt nach draussen auf seinen Container. «Mineralwasser ist schwer. Da lohnt sich das Verladen auf den Zug. Ich kann auf der Strasse höchstens 18 Tonnen auf einen LKW laden, die Schiene trägt 23.» Als Disponent organisiert er die Feinverteilung im Tessin, regelt also, was von der italienischen Schweiz in die Deutschschweiz transportiert wird und umgekehrt. Auch Galliker spricht von Ausbauplänen. «Wir möchten vermehrt mit der Bahn arbeiten. Auf der Strasse haben wir viele Probleme, wir verlieren am Gotthard Zeit durch Staus.» Allerdings sei er weit mehr überzeugt vom Freiverlad als vom Anschlussgleis. Galliker nutzt zwar beide Angebote. Dennoch: «Ich arbeite lieber mit den Containern, weil ich sie einfacher bestellen kann. Möchte ich am Morgen einen Bahnwagen für den gleichen Tag bestellen, geht das nicht. Mit dem kombinierten Verkehr ist man viel flexibler, sehr effizient und schnell.»
Mantilla lobt weiter: «Wenn ich nach Cadenazzo komme, merke ich, wie stolz man ist. Ein fähiger und zielstrebiger Teamleiter konnte eine familiäre Atmosphäre schaffen. Das gehört zur magischen Erfolgsformel.» Cadenazzo, Cadenazzo – ein Ort mit klingendem Namen. Wie gemacht für ein Loblied.