Der Schienengüterverkehr soll in den nächsten Jahren automatischer und digitaler werden. Aufwändige Arbeiten im Gleisbereich werden erleichtert und sicherer. Nadine Wünsch Nietlispach ist die Frau, die diese technischen Entwicklungen koordiniert. Im Interview berichtet sie über den Weg zum digitalen Güterzug.
Liebe Nadine, seit gut einem Jahr koordinierst du als Leiterin Technologie die verschiedenen Projekte zur Automatisierung und Digitalisierung bei SBB Güterverkehr. Auf welches Ziel arbeitest du hin?
Im Schienengüterverkehr stehen in den kommenden Jahren grosse Technologiesprünge an. Neue digitale und automatische Lösungen sollen körperlich anstrengende und zeitintensive manuelle Arbeiten sicherer und einfacher machen. Das Fernziel ist die digitale automatische Kupplung – kurz DAK genannt – mit der aufwändige Rangierarbeiten der Vergangenheit angehören. Mit der DAK sollen Güterwagen automatisch ge- und entkoppelt werden. Heute ist das schwere Handarbeit. Neben der mechanischen Innovation ist entscheidend, dass auch ein Datentransfer zwischen Wagen und Loks sichergestellt ist.
Wie nahe ist SBB Güterverkehr diesem Ziel?
Der Weg zum digitalen Güterzug ist vergleichbar mit der Tour de France: Um das Ziel zu erreichen, müssen wir viele einzelne Etappen absolvieren. Wir führen Schritt für Schritt neue Technologien ein, wie zum Beispiel die automatische Bremsprobe, die automatische Betriebsvorbereitung oder die digitale Prüflogik. Heute haben wir etwa das erste Renndrittel absolviert: Wir haben zwar schon einige Etappenziele erreicht, ein paar Bergetappen stehen uns aber noch bevor.
Du hast gesagt, die DAK ist das Fernziel. Was leistet die SBB für die Entwicklung dieser Technologie?
Die DAK ist das letzte Puzzlestück für den digitalen Güterzug. Die Schweiz und SBB Güterverkehr leisten hier Pionierarbeit in Europa. Zusammen mit dem Bundesamt für Verkehr, Verbänden und der Industrie wollen wir der Technologie zum Durchbruch verhelfen, aber man muss sich bewusst sein: Die DAK ist ein europäisches Projekt. Zulassungen und Inbetriebnahme sind langwierige Prozesse. Daher werden wir die DAK frühestens in einigen Jahren zusammen mit Europa im Betrieb einführen können. Ein Alleingang der Schweiz ist keine Option, da Güterzüge grenzüberschreitend verkehren und mit Wagen aus dem Ausland kompatibel sein müssen.
Du hast die automatische Bremsprobe erwähnt. Worum geht es dabei?
Bevor ein Güterzug abfahrtbereit ist, muss das Rangierpersonal heute den ganzen, rund 500 Meter langen Zug mehrfach ablaufen und alle Bremsen an den Wagen manuell prüfen. Mit der automatischen Bremsprobe kann das Lok- und Rangierpersonal diesen Vorgang direkt auf dem Tablet durchführen. Damit ist ein Zug eine halbe Stunde früher bereit und unsere Mitarbeitenden müssen sich weniger lang im Gleisbereich aufhalten.
Seit Ende 2023 ist diese Technologie zur Erprobung im kombinierten Verkehr zugelassen. Wie sind die Erfahrungen und wie geht es weiter?
Wir haben wertvolle Erkenntnisse gewonnen und entwickeln die automatische Bremsprobe stetig weiter. Im Jahr 2025 wollen wir sie auf weitere Wagentypen zulassen. Wir rechnen damit, dass nach dem Zulassungsprozess die Technologie ab 2027 kontinuierlich ins Netz ausgerollt werden kann und bis 2032 die volle Wirkung in all unseren Verkehren entfalten wird.
Gibt es weitere Projekte, welche die aufwändige Arbeit im Gleisfeld erleichtern?
Algorithmen werden uns auch bei der technischen Kontrolle der Wagen entlasten. Für die Digitale Prüflogik sind an zentralen Standorten auf dem Schienennetz Stationen mit hochauflösenden Kameras in Planung. Mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) lassen sich die durchrollenden Züge automatisch auf Schäden untersuchen. Ein Vorteil in Zeiten des Fachkräftemangels! Zudem erkennt die KI Schäden zuverlässiger und früher, was die Anzahl Betriebsstörungen senkt und die Instandhaltung vereinfacht. Die Folge ist eine höhere Pünktlichkeit, von der letztlich unsere Kunden profitieren.
Der digitale Güterzug ist die Grundlage für die Automatisierung im Schienengüterverkehr. Doch wie intelligent sind unsere Züge heute schon?
Alle unsere Wagen sind seit einigen Jahren mit Standard Telematik-Systemen ausgestattet, mit denen wir unsere Logistikprozesse weiterentwickeln können. Auf Basis der automatischen Bremsprobe entwickeln wir bis 2028 ein neues digitales System zur Automatisierung und Digitalisierung der betrieblichen Zugsvorbereitung. Dabei werden die Wagenpositionen, die Anhängelast und Zustände der Fahrzeuge digital aufgenommen und mit den betrieblichen Vorgaben zur Zugfahrt geprüft. Damit können weitere Arbeiten rund um den Zug sicherer, vereinfacht und beschleunigt werden.
Was ist dein Rezept, damit SBB Güterverkehr diese «Tour de France» gewinnt?
Es braucht Teamwork: Eisenbahnverkehrsunternehmen, Wagenhalter, verladende Wirtschaft, Industrie und Behörden europaweit müssen an einem Strang ziehen. Und dann ist der richtige Mix aus Ausdauer und Technik entscheidend. Die genannten Technologien sind alles wichtige Zwischenschritte auf dem Weg zum Ziel des digitalen Güterzugs. Wir müssen langfristig denken und Etappe für Etappe gute Leistungen erbringen, dann wird der Güterverkehr am Ende gewinnen!
Zur Person
Nadine Wünsch Nietlispach ist seit Ende 2023 Leiterin Technologie bei SBB Cargo und treibt in dieser Funktion Projekte mit Bezug zu Automatisierung und Digitalisierung voran. Die Diplom-Ingenieurin Maschinenbau arbeitet seit 15 Jahren bei der SBB und hatte verschiedene Projekt- und Leitungsfunktionen inne. Unter anderem war sie Gesamtprojektleiterin für den Hochgeschwindigkeitszug Giruno bei der Produktion Personenverkehr.